Anstatt sich immer nur mit Siliconimplantate-essenden Hunden, Fledermauskot in Kajalfarbe oder Alligatoren in der New Yorker Kanalisation zu beschäftigen, sollte sich das neue MTV-Format "Big Urban Myth" zwischenzeitlich ruhig auch mal den richtig heiklen Fällen zuwenden. Unser Vorschlag: "Es heißt immer wieder, Hitlers 'Mein Kampf' unterliege der Zensur - Wahr oder falsch?" Aber Spaßformat beiseite. Tatsächlich wird im Bezug auf dieses Buch - einem der widerwärtigsten Texte, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden - die Verbreitung einer falschen Behauptung vor allem als rechtsextremes politisches Mittel eingesetzt.

Programmschrift

Das zweiteilige Buch "Mein Kampf" - von Adolf Hitler 1924 in Festungshaft begonnen und 1926 vollständig veröffentlicht - enthält bereits programmatische Äußerungen, die mit dem Beginn der Nazidiktatur 1933 grausamste Realpolitik wurden: Aussagen etwa zur Ideologie vom "Lebensraum im Osten" oder zu dem, was Hitler in seinem ersten und einzigen Buch "Entfernung der Juden" nannte - und was den Holocaust bedeutete. Als Hinweis darauf, dass der Inhalt von "Mein Kampf" keineswegs politisch "harmlos" ist, sollte allein schon die Erwähnung dieser Begriffe ausreichend sein. Allerdings kann eine Leseweise als "historischer Text" wichtig und geradezu unerlässlich sein, wenn man die faschistische Ideologie des "Dritten Reiches" aus wissenschaftlichen oder politischen Gründen analysieren und studieren möchte.

Es sind vor allem Rechtsextreme, die immer wieder behaupten, das Buch stehe in Deutschland auf dem Index und sei daher nicht legal erhältlich. Damit soll darauf hingewiesen werden, dass der Rechtsstaat mit dieser Indizierung die Meinungsfreiheit beschränke. Tatsächlich beruht diese Argumentation auf einem Mythos, mit der juristischen Wirklichkeit hat sie nichts zu tun.

Denn verboten ist lediglich der "unveränderte Nachdruck" zum Schutz der Urheber- und Verlagsrechte an dem Buch, die der Freistaat Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten erhielt. Auch gekürzte Versionen gelten als illegaler Nachdruck. Da die Schutzdauer des Urheberrechts bis 70 Jahre nach dem Tod eines Autors anhält, in diesem Fall also bis 2015, geht der Freistaat Bayern bis dahin gegen alle unveränderten Nachdrucke von "Mein Kampf" mit juristischen Mitteln. 

Dies betrifft unter anderem Textausgaben, die als Download von rechtsextremen Websites heruntergeladen werden können, und auch unveränderte Nachdrucke, die über das Internet vertrieben werden. Alte und unveränderte Ausgaben des Buches - also solche, die vor 1945 gedruckt wurden, das waren ungefähr 10 Millionen Exemplare - können antiquarisch legal erworben werden. Laut einem Gerichtsbeschluss von 1979 handelt es sich in diesem Fall "um eine vorkonstitutionelle Schrift [...] aus deren unverändertem Inhalt sich eine Zielrichtung gegen die in der Bundesrepublik Deutschland erst später verwirklichte freiheitliche demokratische Grundordnung noch nicht ergeben konnte". 

Gegen den Mythos

Ist der Druck und Vertrieb von "Raubkopien" - im Inhalt unveränderte Nachdrucke des Buches - also verboten, so sind Druck und Vertrieb von kommentierten Neuausgaben jedoch nicht nur erlaubt, sondern diese sind auch erhältlich. Ein Blick in das Verkaufsangebot einschlägiger Online-Buchvertriebe benennt so zum Beispiel ohne Umschweife die kommentierte Version "Adolf Hitlers Mein Kampf" des Historikers Christian Zentner. Auch CD-Versionen von "Mein Kampf" sind erhältlich: Es handelt sich dabei um von Schauspielern eingesprochene und somit gleichsam theatral kommentierte Textstellen aus dem Buch. Über stimmliche Akzentuierungen oder die Wahl des Textausschnitts ziehen sie den Text ins Lächerliche - und entmythologisieren ihn so mit künstlerischen Mitteln. 

In letzter Zeit ist vor allem der türkische, in Deutschland lebende Schauspieler und Regisseur Serdar Somuncu mit seinen öffentlichen Lesungen von Teilen des Buches bekannt geworden. Seine 2001 veröffentlichte CD "Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders - Mein Kampf", eine "dramatisierte, kommentierte, satirische Lesung", ging aus diesen Auftritten hervor, die das Bayerische Finanzministerium - dort liegen die Urheberrechte - erlaubte. 

Für Diskussion sorgte im letzten Jahr auch der junge Rostocker SPD-Landtagsabgeordnete Mathias Brodkorb, der beim Jugendfestival "Prora03" auf der Insel Rügen eine öffentliche, kommentierte Lesung von Teilen des Buches veranstaltete, die durch einen Workshop kontextualisiert und gleichzeitig von einer Gegenveranstaltung begleitet wurde. 

Brodkorb forderte - gut gemeint -, das Buch müsse endlich auch in Deutschland "für jedermann offen zugänglich" sein, damit eine "offene und kritische Auseinandersetzung mit diesem Machwerk" entstehen könne. Mit der Einschätzung der rechtlichen Situation lag er falsch. Richtig hingegen ist seine Einschätzung des Buches im Hinblick auf dessen literarische Qualität: "Da steht so viel belangloses und unsinniges Zeug drin, dass man sich richtig zwingen muss, die 800 Seiten auch zu schaffen." 

Martin Conrads hat als Teenager die 800 Seiten auch nicht ganz geschafft. Später zog er nach Berlin und studierte unter anderem Geschichte.


Zum Weiterlesen:

George Tabori: Mein Kampf (als CD beim Wagenbach Verlag für ca. 13 € - vom Autor selbst gelesen - als Erzählung in "Meine Kämpfe" beim Carl Hanser Verlag für ca. 15 €)
Im Wiener Männerwohnheim Brigittenau trifft der gewitzte Schlomo Herzl auf den jungen Adolf Hitler, der sich erfolglos bei der Kunstakademie bewirbt - dieser Text (als Theaterstück oder Erzählung) von Tabori ist ein Konzentrat, eine Deutung, vor allem aber eine Glanzleistung. 

Ephraim Kishon: Mein Kamm (Bastei Lübbe, ca. 7 €)
Kishon erzählt die Geschichte eines arbeitslosen kleinen Gauners und eines versoffenen, brillanten Journalisten, die zusammen eine "Anti-Glatzen-Bewegung" gründen - ein Roman über Manipulierbarkeit und Kontrollverlust.