Wer Kate Tempest in einem der zahllosen YouTube-Videos sieht, die sie bei Auftritten als Rapperin oder in Interviews zeigen, versteht sofort, warum diese Frau mit 16 Jahren die Schule abbrach. Diese Art von intensiver, ungebremster Lebens- und Schaffensenergie können manche in den oftmals seichten Wassern der Bildungsanstalten einfach nicht produktiv kanalisieren; die muss hinaus in die Welt. Sicher nicht zufällig hat sich diese Naturgewalt, die im Dezember 1985 als Kate Calvert geboren wurde, den Künstlernamen „Tempest“ gegeben (was „Unwetter“ oder auch „Sturm“ bedeutet, wie im Titel des Shakespeare-Stücks „The Tempest“).

Zu langen goldblonden Locken trägt Kate Tempest ein ernstes, klares Jungsgesicht und Baggy Jeans. Mit 16 Jahren begann sie, als Rapperin aufzutreten. Mit ihrer Band tourte sie über mehrere Kontinente. Poetry Slams kamen hinzu. Eine erste Gedichtsammlung erschien als Buch, dann eine zweite. Kate schrieb ein Theaterstück, dann noch zwei. Gewann einen wichtigen Lyrikpreis. Vor wenigen Monaten erschien ihr erster Roman „The Bricks that Built the Houses“. Man kann ihn schon jetzt unter dem Titel „Worauf du dich verlassen kannst“ auch in deutscher Übersetzung bekommen. Die ist an sich recht anständig, reicht aber nicht an die musikalische Qualität des Originals heran, das im Übrigen nicht sehr schwierig zu lesen ist. Die Sätze sind kurz, der Wortschatz weder ausgesucht noch ausgefallen, denn das Leben geht schnell vorbei, und um seinem manchmal atemlos machenden Rhythmus gerecht zu werden, muss es sprachlich der kürzeste Weg sein. Eben das ist es, was die Kraft von Kate Tempests Sprache ausmacht. Es gibt in ihr nichts Überflüssiges.

Eine Liebeserklärung an das „working class“ London

Neben allem anderen ist „Worauf du dich verlassen kannst“ auch eine Liebeserklärung an London – vor allem an das London südlich der Themse, das immer noch weniger „posh“ und mehr „working class“ ist als die Stadtteile nördlich des Flusses und in dem Kate Tempest selbst aufwuchs. Auch die Protagonisten ihres Romans stammen von dort. Die schöne Becky, die Tänzerin ist und als Choreografin arbeiten möchte, aber ihren Lebensunterhalt mit erotischen Massagen verdient. Die um ein paar Jahre ältere, ziemlich toughe Harry, die zusammen mit ihrem Kindheitsfreund Leon Kokain an die Reichen und Schönen vertickt, während alle Welt glaubt, sie arbeite im Personalwesen. Der planlose Pete, der von der Stütze lebt, sich in Becky verliebt und vor Eifersucht fast umkommt, weil er sich einbildet, sie könne Sex mit ihren Massagekunden haben.

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Kate Tempest cover

Kate Tempest: Worauf du dich verlassen kannst. Aus dem Englischen von Karl und Stella Umlaut, Rowohlt, 400 Seiten, 14,99 Euro

Auch Harry ist Becky sofort verfallen, als sie sich zufällig auf einer Party kennenlernen. Und im Grunde steuert ein großer Teil des Romans auf die Frage zu, ob sie sich nun kriegen oder nicht. Also Becky und Harry. Eingesponnen ist diese Liebesgeschichte in ein zunehmend spannungsvolles Szenario voller seltsamer Zufälle, wie sie im realen Großstadtleben eigentlich kaum jemals vorkommen. Kate Tempest knüpft ein unterirdisches Netz von Beziehungen zwischen den Romanfiguren, das teilweise über Generationen zurückreicht. Da hat der Vater von Becky ein revolutionäres Buch geschrieben, das niemand mehr kennt, das aber Pete liest, als sie sich kennenlernen. Und Beckys Onkel arbeitet ausgerechnet für den Dealer, der Harry und Leon mit Stoff versorgt. Wenn Harry das nur eher gewusst hätte … Es sind schicksalhafte Verbindungen, die eine tiefe Sehnsucht als Subtext unter diesen Roman legen: die Sehnsucht, dass die Dinge im Leben einen Zusammenhang ergeben und nicht einfach nur so passieren.

Da es im wirklichen Leben eher weniger zusammenhängend zugeht, ist „Worauf du dich verlassen kannst“ im Grunde eine Art Märchen. Ein sehr modernes, cooles, temporeiches Großstadtmärchen, mit viel Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll und Londoner Kiezflair, aber eben doch eine Geschichte von lauter guten Menschen, die zwar ihre Probleme haben, sich aber zusammenraufen und es den Bösewichten schon zeigen. Was soll man sagen: Toll erzählt ist das und liest sich weg wie nix.

Titelbild: ANDREW TESTA/NYT/Redux/laif