Dein Vater ist tot. Diese Nachricht bekam Robin Hellwinkel am Telefon, als er in einer Vorlesung saß. Nachdem er aufgelegt hatte, mischte sich in Schock und Trauer sofort die Klarheit: Du musst jetzt den Betrieb übernehmen. Das Erbe. Die Verantwortung über 35 Angestellte. Du musst das fortführen, was schon vier Genera­tionen aufgebaut und bewahrt haben.

Jetzt, rund acht Monate nach dem Tod des Vaters, ist der 24-­Jährige gemeinsam mit seiner Mutter Gesellschafter und alleiniger Geschäftsführer des Familienunternehmens Neu­märker, das im sauerländischen Hemer Waffeleisen, Popcorn­automaten, Currywurstschneider und andere Geräte für die Gastronomie herstellt.

Es ist ein Bruch, mit dem Robins Leben eine neue Richtung bekommen hat. Vielleicht noch entscheidender ist der Generati­onswechsel für die Firma, die Robins Vorfahren ein Jahrhundert lang durch viele Widrigkeiten gelenkt haben.

Denn eigentlich ist Robin noch gar nicht fertig mit dem Stu­dium. Erst nächstes Jahr schreibt er seine Masterarbeit an der IÉSEG, einer Elite-­Wirtschaftsschule im französischen Lille. Dort hat er in den vergangenen Jahren das Handwerk des Unterneh­mers gelernt. Zuletzt fand er aber nur wenig Zeit, sich um seinen Abschluss zu kümmern. "Es ist schon hart", sagt Robin. "Alles, was ich mir in Frankreich aufgebaut habe, ist vorbei." Er sagt es ganz nüchtern, ohne Wehmut, während er in seiner Mittagspause die gebratenen Nudeln vom China-­Imbiss auf die Gabel rollt.

Der kleine Besucherraum der Firma, wo er sich zur Mittags­pause hingesetzt hat, ist eher altmodisch eingerichtet, wie eine gutbürgerliche Gaststätte. Sein Vater nutzte den Raum vor langer Zeit als Büro. Vor dem Eingang empfängt die Besucher eine schwere Standuhr. In den Regalen erinnern Neumärker ­Bügel­eisen an die ersten Jahre des Unternehmens – Bügeleisen, die einst statt mit Strom mit heißer Kohle betrieben wurden. Für Robin sind sie auch eine Mahnung, fortzuführen, was so viele Jahre zuvor begonnen hat.

Angefangen hat alles mit Robins Ur­-Ur­-Großvater Ernst Neumärker, der 1894 in Düsseldorf mit Sargbeschlägen und Sarggriffen handelte. 1910 kaufte er schließlich die Gießerei in Hemer bei Iserlohn, und aus den Sarggriffen wurden erst Bügel-­ und dann Waffeleisen.

Die Geräte verkauften sich so gut, dass die Firma schon 1912 rund 1.000 Mitarbeiter beschäftigte. Das Unternehmen florierte und betrieb zehn Fabriken und mehrere Niederlassungen in ganz Europa. "Im Zweiten Weltkrieg ist dann sehr viel kaputtgegan­gen", erzählt Robin. In der Nachkriegszeit konnte das Unterneh­men nicht an die frühen Erfolge anknüpfen. Ende der 60er Jahre kam dann fast der Bankrott, bis Robins Vater Wolfgang die Führung übernahm. "Er hat das Unternehmen wieder aufgebaut", sagt der Sohn.

Robin erinnert sich noch gut daran, wie er als Fünfjähriger in der Verwaltung und der Produktion gespielt hat. In den Räumen, wo sie gearbeitet hat, hat die Familie früher auch gewohnt. Deswegen kannten die meisten Mitarbeiter ihren heutigen Chef schon als kleinen Jungen. Für den jetzt 24­-Jährigen ist das kein Problem. "Das zeichnet ein mittelständisches Unternehmen aus, dass die Mitarbeiter wie eine zweite Familie sind."

Der Mittelstand wird von Politikern oft als Stütze der deut­schen Wirtschaft und Quelle des Wohlstands gelobt. Die meisten mittelständischen Unternehmen befinden sich im Besitz von kleinen und großen Familien; aber auch hinter riesigen Kon­zernen wie beispielsweise der Metro­Gruppe, BMW oder Bosch bestimmen Familien die Geschäftspolitik. Ob Dax-­Unterneh­men oder kleiner Handwerksbetrieb – Familienunternehmen stehen im öffentlichen Ansehen oft für Werteverbundenheit statt für blindes Wachstumsstreben und für einen verantwor­tungsvollen Umgang mit den Mitarbeitern statt für kurzfristiges Streben nach Profit.

Dem fühlt sich auch Robin verpflichtet und hat sich einiges von seinem Vater abgeschaut, kleine Gesten der Wertschätzung zum Beispiel. So begrüßt er morgens jeden Beschäftigten persön­lich. "Das Unternehmen ist sehr stark von meinem Vater und seinem Charisma geprägt. Seine Vorbildfunktion für die Mitar­beiter muss ich jetzt übernehmen", sagt Robin. Fast könnte man auf die Idee kommen, das gerahmte Bild des Vaters im Flur sei eine Mahnung an den Sohnemann: Junge, mach nichts, was dein alter Herr nicht auch tun würde.

Ist die Verantwortung nicht zu groß? Robin, über 1,90, breite Schultern, lächelt. Es kam für ihn und seine Mutter nicht infrage, dass ein externer Geschäftsführer den Betrieb übernimmt.

Gut und schön, was der Vater gemacht hat. Aber nun geht’s richtig los

"So jemand vertritt nicht in erster Linie unsere Interessen", sagt Robin. Ohnehin war es für ihn spätestens nach dem Abi klar, dass er selbst Unternehmer werden will.

Das bedeutet, von morgens früh bis spät abends da zu sein. Auch am Wochenende muss Robin darüber nachdenken, was am besten ist für den Betrieb und seine Mitarbeiter. Wenn er sich und seinen Vater vergleichen müsste? "Ich habe einen ganz anderen Ansatz", meint Robin. Sein Vater sei ein Kaufmann alter Schule gewesen, immer um das unmittelbare Wohl des Geschäftes be­sorgt, aber doch ein wenig verschlossen, was die Unternehmens­führung angeht.

Sollte Robin Erfolg haben, wäre das zunächst nicht sein Ver­dienst, das gibt er offen zu. Der Vater hat mehr als 40 Jahre ein Unternehmen geführt, das weltweit mit 20 Handelspartnern sei­ne Produkte vertreibt. Doch wenn der Sohn über Unternehmer­tum spricht, macht sich der Einfluss der zeitgenössischen Manage­ment-­Lehre bemerkbar. Da ist bei ihm von einer Firmenphilosophie die Rede, von einer Vision, von Strukturen, die noch fehlen, von Marktvorteilen und einem langfristigen Aufbau der Marke. "Wir wollen größer und bekannter und in unserer Nische die Besten werden."

Er steht auf dem Betriebshof und schaut sich um. In den vergangenen Jahrzehnten sei alles ein wenig chaotisch gewachsen: Produktion, Entwicklung, Lager. Aber das Hauptgebäude mit dem industrietypischen zackenartigen Scheddach steht noch da wie vor 100 Jahren. Was bedeutet für Robin Tradition? Er überlegt. Sie sei wichtig. Aber auch schädlich. "Wenn man sich nur auf sie stützt, vermittelt es den Eindruck, dass man auf der Stelle tritt." Robin, Unternehmer in fünfter Generation, hat dagegen noch viel vor; die Standuhr vor dem ehemaligen Büro seines Vaters soll kein böses Omen sein. Dass ihre Zeiger irgendwann auf 11.03 Uhr stehen geblieben sind, ist ihm noch gar nicht aufgefallen.