Zu der Roboterpuppe, die über den Werktisch rollt, hat Shobei Tamaya ein intensives Verhältnis. Er hat sie erschaffen, sie war einst sein Gesellenstück. Die Puppe hält die japanische Teezeremonie ab. „Nehmen Sie sie hoch, schnell!“, zischt der dünne Mann in schlabbrigen Klamotten und mit faltigem Gesicht. Auf einem Tablett trägt sie eine Tasse, durch Zahnräder angetrieben fährt sie zum menschlichen Gegenüber auf der anderen Seite des Tischs. Nimmt man die Tasse, hält die Puppe aufgrund der Gewichtsentlastung an. Dann kann der Tee getrunken werden. „Gerade noch rechtzeitig“, nickt Tamaya.
„Jeder muss profitieren!“ – der Käufer, der Verkäufer und die Gesellschaft
Er, der Meister, ist erleichtert. Zu viele Besucher verstünden die Funktionsweise nicht. Shobei Tamaya baut Karakuri, mechanische Puppen. Als Mitte des 17. Jahrhunderts die erste ihres Typs gebastelt wurde, waren sie eine Riesensensation, heute gelten sie als Vorläufer der Robotik. Shobei Tamaya leitet die Werkstatt in der neunten Generation. Hier, in der japanischen Industriestadt Nagoya, war die Familie Tamaya einst eine richtig große Nummer.
Wahrscheinlich würden die Tamayas heute zu den reicheren Familien Japans zählen, hätten sie sich nicht an eine Tradition der Edo-Zeit (1603 – 1868) gehalten, in der in Japan viele kulturelle Dinge aufblühten, die heute als typisch japanisch verstanden werden – und eine Kultur des Teilens immaterieller Güter entstand. Shobei Tamaya rezitiert die Worte seines Vaters: „Jeder muss profitieren!“ – der Käufer, der Verkäufer und die Gesellschaft. „So sah man die Dinge damals.“
Also legte Tamayas Vorfahr, nachdem er mal wieder einen mechanischen Coup gelandet hatte, im Jahr 1796 all seine Baupläne offen. Drei Bücher voller Konstruktionsdetails von mechanischen Uhren und den beliebten Puppen wurden zu Allgemeinwissen. Muss man sich über so etwas nicht ärgern? Statt in der Chefetage eines Konzerns zu sitzen, schnitzt der jüngste der Söhne heute an einer Figur für das nächste Stadtteilfest. „Andere Mechaniker, die sich nicht mehr an die Kooperation hielten, wurden reich“, sagt er und holt aus einer Vitrine voller Puppen die alten Bücher mit den Skizzen. „Schön für die.“ Zu denen, die von der Kreativität der Tamayas profitierten, gehörte der Gründer des späteren Weltkonzerns Hitachi, auch der Vater von Toyota ließ sich inspirieren.
„Ich war nicht talentiert genug. Und im Sumo suchten sie noch Leute“
Shobei Tamaya aber ist zufrieden – und stolz. „Meine Familie war immer der Kultur und dem Handwerk verpflichtet.“ Fast ein Jahr braucht er für eine gute Puppe. „Reichtum“, sagt Shobei Tamaya mit Blick auf eine noch kahle Puppe in seinen Händen und schmunzelt in seinen Bart, „das ist für mich Respekt vor alten Regeln. Und Sorgfalt. Die darf auch ruhig auf Kosten der Geschwindigkeit gehen.“
Auch Takahiro Chino lebt davon, alten Traditionen zu folgen. Oder wie sie ihn auch nennen: Ginseizan. Das ist sein Kampfname, im 300 Kilometer weiter östlich gelegenen Tokio ist Chino Sumoringer. Nach dem dreistündigen Morgentraining stöhnt er, wieder mal wurde er in fast jedem Kampf von seinen Trainingskollegen aus dem Ring geschubst, geschoben oder gehoben. Takahiro Chino wiegt nur gut 90 Kilo. Das sind zwar ein paar Kilo mehr als noch vor fünf Jahren, als er anfing, aber weiterhin ist er der Leichteste von allen. Die stärksten Ringer bringen doppelt so viel auf die Waage.
Von Anfang an wusste Takahiro Chino, dass er wohl nie eine große Karriere hinlegen würde, jedenfalls nicht im ältesten Sport des Landes. „Ich war früher Eiskunstläufer“, sagt er, als er nach dem Training seine lahm gewordenen Arme an einem dicken Holzpfahl neben dem Ring dehnt. „Aber ich war nicht talentiert genug. Und im Sumo suchten sie noch Leute. Es herrschte richtig akuter Mangel an jungen Ringern.“ In den 1990er-Jahren war der Sport, der irgendwann vor zwei Jahrtausenden entstand und unter Traditionalisten einen religiösen Status genießt, noch einer der beliebtesten des Landes. Heute aber hängen sich Kinder lieber die Poster von Fußballern über das Bett als das eines fülligen, fast nackten Ringers. Im Sumo hat man auch längst nicht die besten Verdienstaussichten.
Trotzdem. Takahiro Chino war als Kind zu dünn, deshalb hatte er sich als Heranwachsender nie im Ring versucht. Aber das Starke, Gewaltige und dennoch kaum Aggressive beim Sumo hat er schon immer bewundert. Eines Tages merkte Chino, dass es doch eine Chance gab: „Als ich im Haus meiner Eltern in Nagano durch das Fernsehprogramm zappte, hieß es auf einem Sportsender, dass der Ootake-Stall noch Ringer suchte. Da hab ich sofort angefangen zu fressen.“ Die nötige Beweglichkeit hatte Chino noch von seinem Training auf dem Eis. Und siehe da: Beim Probetraining überzeugte den Meister in Tokio Takahiro Chinos starker Wille, und er nahm ihn auf. Beharrlichkeit ist das Wichtigste, sagen sie bei Ootake.
Seitdem darf Chino sich Profiringer nennen, aber so richtig glamourös ist das nicht. Er bekommt Kost und Logis, aber kein großes Gehalt. In einem kleinen Häuschen in einer engen Straße im Südosten Tokios schläft er nachts auf einer auf dem Küchenboden ausgerollten Matte. Seine Tage verbringt er vor allem mit Training, Essen, Training und Essen. „Beim Sumo wirst du nur sehr langsam stärker. Vor allem, wenn du nicht so massiv bist. Ich muss deshalb meine Schnelligkeit und Technik trainieren. Und so viel zunehmen, wie es geht.“
Teil des Lebensstils sind strenge Hierarchien. Unangenehm für die Jüngsten und Schwächsten, aber so sind eben die Regeln. So war es über Jahre Takahiro Chino, der täglich nach dem Training das Essen für alle anderen kochen musste, viel Reis mit Gemüse und Hühnerfleisch. „Ich bin auf einem guten Weg“, sagt Chino. „Aber ich muss mich total im Training auflösen.“
Viele Menschen in Japan vereint das völlige Vertiefen in die Tätigkeit – was immer sie auch tun. Die Arbeit um ihrer selbst willen. Einen guten, gründlichen Job machen, nicht weil es dann einen Bonus gibt, sondern weil die Arbeit gut gemacht wird. Die Schattenseite davon ist, dass viele Arbeitnehmer sich so sehr in den Dienst der Firma oder der Sache stellen, dass sie manchmal ihr Privat- und Familienleben vernachlässigen.
Kouchi Higuchi ist Rentner. Er arbeitet weiter, weil er kann und will
Man bemüht sich nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern genauso wegen des Vorgangs, der zum Ergebnis führt. Kouchi Higuchi hat gemerkt, dass er ohne das nicht kann. Im siebten Stock eines Bürogebäudes im Zentrum von Tokio läuft er morgens im Blaumann durch die Gänge. Sein Job ist es, die Klimaanlage und die Stromversorgung zu prüfen: einmal in jedes Büro, von der Anwaltskanzlei bis zur Werbeagentur, und die Angaben abgleichen mit den Standmeldungen im Kontrollraum. Dann geht es ins nächste Stockwerk. „Sieht gut aus“, nickt er.
Kouchi Higuchi ist 68, vor acht Jahren musste der Automechaniker altersbedingt in Rente gehen, wie es das Gesetz vorsieht. Aber nach ein paar Wochen auf der Couch juckte es ihn. „Ich fühlte mich so nutzlos.“ Zuerst heuerte er bei der Stadtverwaltung seines Wohnorts an, am Rande Tokios. Als er mit 65 auch dort zu alt war und ausscheiden musste, fand er seinen aktuellen Job: in der Gebäudeinstandhaltung.
Geht es um’s Geld? Ja, aber es ist nicht nur das
Kouchi Higuchi ist körperlich fit. Er arbeitet weiter, wie viele Rentner in Japan, weil er kann und will. Er macht es sogar für ein Drittel seines Lohns vor Rentenantritt. „Meine Frau ist auch 68, die arbeitet in einem Gemüsegeschäft.“
Geht es um’s Geld? Ja, aber es ist nicht nur das. „Ich will nützlich sein, so lange wie möglich.“ Das klingt fast zu kitschig, aber wenn man diesen Mann vorbei an den Bürotüren durch die Gänge spazieren sieht, glaubt man ihm. Er wirkt einfach fröhlich und ausgefüllt. Wohl noch mehr als in manch anderen als arbeitsam bekannten Ländern gelten Unermüdlichkeit und Aufopferung in Japan als Tugend. Kouchi Higuchi fährt jeden Morgen eine Stunde zu seinem neuen Job in diesem Bürogebäude. „Immer, wenn es ein Problem mit der Klimaanlage oder dem Strom gibt, helfe ich den Leuten, und sie danken es mir. Das macht mich glücklich.“ Kann es so einfach sein? Kouchi Higuchi zuckt mit den Schultern. Ja, sei es, jedenfalls im hohen Alter, wenn man den größten Teil des Lebens schon hinter sich habe.
Das selbstlose Auflösen in der Tätigkeit. Alle sollen profitieren. Es klingt nach Idealen für eine Gesellschaft voller Fleiß und Fairness, nahezu utopisch. So funktioniert also Japan? Zurück in Nagoya, bei Shobei Tamaya, dem Puppenbauer. Auf seinem Werktisch steht jetzt eine Bogenschützenfigur, die sich durch in ihr drehende Zahnräder mit dem Arm einen Pfeil aus dem Köcher zieht und dann mit einem Bogen auf eine rund einen Meter entfernte Zielscheibe schießt. „Treffer!“ Shobei Tamaya jubelt. Zum ersten Mal blickt er entspannt durch den Raum. „Als ich jung war, gab mir mein Vater vor, diesen Bogenschützen nachzubauen. Ein echter Klassiker. Es war mein Meisterstück.“
Das Original, anders als Tamayas Werk, ist nicht mehr in Gebrauch. Es ist anderswo hinter einer Vitrine versteckt, wo man es weder in Aktion sehen noch die Bauart nachvollziehen kann. Der Toyota-Konzern, einer der größten Autobauer der Welt, hält es im Sammlerbesitz. „Das ist der Weg zu finanziellem Reichtum“, sagt Shobei Tamaya und verschwindet im Materialraum. Aber man könne auch nach etwas anderem suchen.
Titelbild: Sean Lotman