Nach sechs Stunden Busfahrt sitzt Joy Ntinyari auf einer Holzbank in einem Hinterhof Nairobis und wartet auf ihr künstliches Bein. Die 15-Jährige mit dem Kapuzenpulli hat eine Fehlbildung, die sich Phokomelie nennt, Robbengliedrigkeit. Ihr rechter Fuß reicht nur bis zum linken Schienbein. Geduldig wartet sie neben Männern, Frauen und Kindern, denen ebenfalls Gliedmaßen fehlen und die auf Krücken gestützt auf und ab humpeln. Sie alle sind an diesem Vormittag gekommen, weil sie gehört haben, dass es hier Hilfe gibt.

15 Prozent der Weltbevölkerung haben eine Behinderung – 30 Millionen bräuchten eine Prothese

In dem Hinterhof befindet sich eine Werkstatt. Kenianische Orthopädisten stellen dort Prothesen her, wie sie vor knapp einem halben Jahrhundert in der indischen Stadt Jaipur erfunden wurden. Die Technologie ist einfach und für den Einsatz draußen geschaffen: An einem wasserfesten Gummifuß, der ohne Schuh verwendet werden kann, wird ein Bein fixiert, hergestellt aus einem Hartplastikrohr, das geschmolzen und an den Stumpf des Patienten angepasst wird. Beide Teile werden verklebt und verschraubt – fertig ist das künstliche Bein.

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 Joy Ntinyari

Mit sieben Jahren bekam Joy Ntinyari ihre erste Prothese von Jaipur Foot. Jetzt ist sie 15 und dem künstlichen Bein längst entwachsen

Die Jaipur-Prothese gehört zu den erfolgreichsten weltweit, denn sie ist robust und kostet weniger als 100 US-Dollar für Material und Herstellung. Dank Spenden können Patienten kostenlos versorgt werden – nicht nur in Kenia und Indien, sondern weltweit. Mehr als 1,5 Millionen Menschen haben bis heute von der indischen Technologie profitiert.

Einen Jaipur-Fuß bekommt man schon für unter 100 Dollar

15 Prozent der Weltbevölkerung, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), haben eine Behinderung. 30 Millionen Menschen, viele von ihnen in den Ländern des globalen Südens, bräuchten ein orthopädisches Hilfsmittel, doch die meisten haben dazu keinen Zugang. Es fehlt an Experten, an Orthopädiewerkstätten, vor allem aber an Geld.

Die kostenfreie Versorgung der Patientinnen und Patienten gehört deshalb zur Philosophie der indischen NGO, die die Prothesen herstellt. Deren Gründer, Devendra Raj Mehta, geht es darum, menschliche Würde und Selbstachtung zu sichern. „Sobald man für die Dienstleistung Geld verlangt“, sagte er dem „Forbes“-Magazin, „wird der Teil der Bevölkerung marginalisiert, der am stärksten gefährdet ist.“ Es sei dieser Teil der Gesellschaft, dem seine NGO am meisten dienen wolle.

... für viele Menschen ist das immer noch viel zu teuer 

 

Joy Ntinyari erinnert sich an ihren ersten Besuch in der Hinterhofwerkstatt in Nairobi. Damals war sie als Kind mit ihren Eltern hier, heute ist sie alleine gekommen. Sie trägt eine Orthoprothese, ein medizinisches Hilfsmittel, das ihr zu kurzes Bein stabilisiert und entlastet. Bekannte haben es zwischenzeitlich geflickt und verlängert; Ntinyari ist ihm längst entwachsen. „Seit zwei Jahren tut es ein wenig weh“, sagt sie.

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Anpassen einer Beinprothese

Um die Beinprothese mit dem künstlichen Fuß zu verbinden wird das untere Ende des Plastikrohrs auf einer Herdplatte erhitzt. Noch heiß wird es auf den Fuß gestülpt und nach dem Erkalten mit Schrauben fixiert

In Deutschland zahlen die Krankenkassen für eine Prothese, bei Problemen gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf eine Neuanpassung. Die Kosten dafür reichen von mehreren tausend bis zu mehreren zehntausend Euro für Hightech-Produkte. In Entwicklungsländern verwenden Orthopädiewerkstätten billigere Materialien wie vorgefertigte Teile des Internationalen Roten Kreuzes. Für Menschen, die gerade mal so viel verdienen, wie sie am Tag zum Leben brauchen, bleiben diese trotzdem oft unerschwinglich.

Die Prothesen müssen von Experten angepasst werden

In Indien arbeiten heute Techniker in 22 Werkstätten, neben Kenia gibt es Prothesenzentren unter anderem in Afghanistan, Pakistan, auf Mauritius, den Philippinen und in Kolumbien. In Nicaragua, Sri Lanka, Thailand und Kambodscha wurden ebenfalls Werkstätten mit Unterstützung aus Indien errichtet; das Jaipur-Design wurde nie patentiert.

... doch die sind rar und oft weit weg

Die Technik sei einfach und gut, sagt Heinz Trebbin, Orthopädietechniker und von 2004 bis 2010 Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für Prothetik und Orthetik (ISPO). Doch oft sei die Anwendung mangelhaft. Er erinnert sich an einen Besuch in einer Werkstatt in Honduras, wo Experten aus Indien in einem zweiwöchigen Kurs einen Mitarbeiter anlernten. „Er war kein Orthopädietechniker und überfordert“, sagt Trebbin. Die Prothesenschäfte, die er baute, passten nicht. Patienten konnten mit ihren künstlichen Beinen nicht laufen, Druckstellen verursachten Wunden. „Das war zum Scheitern verurteilt“, sagt Trebbin. Mit anderen Worten: Damit die Jaipur-Beine helfen können, müssen sie von Experten hergestellt und angepasst werden – so wie in Nairobi.

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Joy Ntinyari und Purity

Auf der sechsstündigen Busfahrt hat Joy (rechts) Purity kennengelernt. Die Wartezeit auf ihr neuen Prothesen vertreiben sie sich mit Späßen über zu große Stumpf-Socken

Dort stellen ausgebildete Orthopädisten montags bis freitags von 8 bis 17 Uhr neue Beine her. Sie fotografieren jeden Patienten ohne und mit Prothese, um Spendern zu zeigen, was mit ihrem Geld geschieht; vor allem in den Hindu-Tempeln Nairobis wird fleißig für das Projekt gesammelt. Die Kunststoffrohre dafür importiert die Werkstatt aus Indien, auch die Gummifüße, die in einem Schiffscontainer in der Hinterhofwerkstatt lagern. Sie sind seit ihrer Erfindung in den 1960er-Jahren leichter und flexibler geworden.

Mit 3-D-Technologie könnten Stümpfe in Zukunft vor Ort vermessen und Prothesen gedruckt werden

In Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Universität Stanford hat das Jaipur-Projekt außerdem ein künstliches Kniegelenk aus ölgefülltem Nylon, Hartplastikteilen sowie Schrauben und Muttern entwickelt, das nur 20 US-Dollar in der Herstellung kostet. Das Indian Institute of Technology (IIT) testet zudem eine Methode, die womöglich die Zukunft der Prothesenversorgung weltweit prägen wird: die 3-D-Technologie. Prothesenschäfte – die individuelle Verbindung zwischen Stumpf und künstlichem Bein – könnten in Zukunft gedruckt werden. Noch brechen die gedruckten Schäfte zu leicht. Zurzeit führen indische Wissenschaftler klinische Tests durch, Anfang 2018 wollen sie erste wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen.

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Lager mit Fußprothesen

Gips, Füße und Plastikrohre werden aus Jaipur importiert und in einem Fracht-Kontainer im Garten der Werkstatt gelagert. Die Füße sind nach Zentimetergröße sortiert

Durch die 3-D-Technik müssten Patienten in ländlichen Gegenden nicht mehr wie Joy Ntinyari lange Reisen unternehmen, um in Prothesenwerkstätten ihre Stümpfe vermessen zu lassen. In Zukunft könnten Experten zu ihr kommen, mit einem 3-D-Scanner ausgerüstet ein digitales Modell ihres Beins am Computer erstellen und die Daten via Internet in eine Werkstatt schicken. Der gedruckte Schaft könnte Ntinyari dann einfach per Post zugestellt werden. Noch stehen Wissenschaftler und Helfer erst am Anfang dieser Entwicklung. Doch falls die Tests erfolgreich verlaufen, wäre die Erfindung aus den 1960er-Jahren, die das Leben so vieler Menschen erleichtert hat, im 21. Jahrhundert angekommen.

Benjamin Breitegger ist freier Journalist in Wien. Die Recherche wurde ermöglicht durch ein Stipendium des European Journalism Centre (EJC)