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„Unsere Existenz ist durch Atemlosigkeit geprägt“

Italiens Staatsangehörigkeitsrecht zählt zu den restriktivsten in der EU. Was bedeutet das für die Kinder ausländischer Eltern, die in Italien geboren oder aufgewachsen sind? Wir haben vier von ihnen gefragt

Omar, Fioralba, Sonny, Clara

In Italien leben Schätzungen zufolge über fünf Millionen Menschen ohne italienische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in Italien geboren oder aufgewachsen sind und nur den Pass des Herkunftslands ihrer nach Italien eingewanderten Eltern besitzen – in mehr als der Hälfte der Fälle eines Nicht-EU-Staates. Sie können nicht wählen oder nur beschränkt im öffentlichen Dienst arbeiten, für Schulreisen ins Ausland oder das Erasmus-Programm brauchen sie oft eine Vielzahl an Unterlagen, manchmal sogar ein Visum. Und als Inhaber*innen eines Aufenthaltstitels erfahren viele Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Das italienische Staatsangehörigkeitsgesetz basiert auf dem sogenannten Abstammungsprinzip 

Aufrechterhalten wird diese Form der institutionellen Diskriminierung, wie sie in vielen Nationalstaaten typisch ist, durch das sogenannte Staatsangehörigkeitsgesetz. Das italienische, das gerade 30 Jahre alt geworden ist, basiert jedoch auf dem sogenannten Abstammungsprinzip und ist dabei besonders streng im Vergleich zu anderen Systemen. Demnach bekommt ein Kind qua Geburt die italienische Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil sie hat. Schon bei seiner Verabschiedung 1992 hinkte das Gesetz der Realität hinterher: Italien war damals bereits ein Einwanderungsland und gerade in den 1990er-Jahren Ziel Tausender Menschen, die vor Armut etwa aus Albanien übers Meer flüchteten. An ihre Nachfahren, die in Italien heranwachsen würden, wurde bei der Verfassung des Gesetzestextes nicht gedacht.

Hier geben vier „Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft“ Einblick in ihr Leben:

„Dass über einer Million jungen Italiener*innen die Staatsbürgerschaft ihres eigenen Landes verwehrt wird, halte ich für zutiefst antidemokratisch“

Sonny Olumati, 35, ist in Rom geboren und hat die nigerianische Staatsbürgerschaft. Er ist Aktivist bei „Italiani senza cittadinanza“. Seit 2016 setzt sich die Bewegung für die Rechte nicht anerkannter Italiener*innen ein.

Meine Eltern stammen aus Nigeria. Ich bin Römer. Und wie alle Römer*innen hänge ich sehr an meiner Stadt. Genauer gesagt komme ich aus Ostia, einem Vorort, wo wir Kinder von Einwander*innen schon in den späten 1990er-Jahren stärker als in anderen Bezirken vertreten waren.

Die italienische Staatsbürgerschaft habe ich mit 18 beantragt. Meine Dokumentation war vollständig, doch ich wurde mehrmals aufgefordert, zusätzliche Unterlagen einzureichen, wie etwa das nigerianische Führungszeugnis meines Vaters. Die Behörde hat dann einige meiner Dokumente verloren, weshalb ich sie neu abgeben musste. Mein Antrag wurde zwar nie abgelehnt, doch 17 Jahre später habe ich die italienische Staatsbürgerschaft immer noch nicht bekommen.

Wir Aktivist*innen der Bewegung „Italiani senza cittadinanza“ sind eine Art „Elite“, denn wir haben unsere Realität zum Ansporn für den Widerstand gemacht. Doch viele andere sind einfach entmutigt. Dass über einer Million jungen Italiener*innen die Staatsbürgerschaft ihres eigenen Landes verwehrt wird, halte ich für zutiefst antidemokratisch und illiberal. Damit wird uns der Zugang zu gleichen Chancen verwehrt. In der Schule durfte ich an Reisen ins Ausland nicht teilnehmen, weil ich die benötigte Dokumentation nicht hatte. Mit meinem Medizinstudium habe ich erst mal pausiert, obwohl ich weiterhin Neurochirurg werden möchte: Als Schwarzer Mensch ohne italienischen Pass, der als Einwanderer angesehen wird, befürchte ich, in diesem äußerst elitären Beruf noch mehr Rassismus zu erfahren. Die Angst, jemandes „Wasserträger“ sein zu müssen, hält mich zurück. Auch in meiner Tänzerkarriere habe ich Diskriminierung erfahren: Häufig wurde ich von potenziellen Arbeitgebern nicht mehr kontaktiert, weil die Anstellung eines ausländischen Staatsbürgers mit Aufenthaltserlaubnis einen zu großen bürokratischen Aufwand bedeutete. Um den Job zu bekommen, musste ich zehnmal besser sein als die anderen Bewerber*innen.

„Wenn mir das Warten zu viel sei, solle ich doch einfach nach Albanien zurückkehren, haben mir die Beamt*innen in Italien gesagt“

Clara Osma, 23, ist im süditalienischen Trebisacce geboren und hat die albanische Staatsbürgerschaft

1998 landeten meine Eltern an der Küste Apuliens – mit einem Schlauchboot aus Albanien. Kurz darauf wurde ich geboren. Damals lebten meine Eltern hier noch illegal und schufteten Tag und Nacht als Landarbeiter*innen. Deshalb mussten sie mich bald zu meinen Großeltern nach Albanien zurückbringen. Drei Jahre später haben sie mich dann wieder abgeholt, seitdem lebe ich in Italien. Hier bin ich zur Schule gegangen, hier habe ich studiert, hier zahle ich Steuern. Aber wegen der drei Jahre, die ich als kleines Kind in Albanien verbracht habe, hatte ich mit 18 keinen Anspruch darauf, die italienische Staatsbürgerschaft als in Italien Geborene zu beantragen. 2019 habe ich einen Antrag auf Einbürgerung gestellt, der bis heute offen ist.

Inzwischen wurden meine Eltern und meine jüngere Schwester eingebürgert. Ich hingegen warte seit über einem Jahr sogar auf Dokumente, mit denen ich nach Berlin ziehen und dort arbeiten kann. 2020 habe ich dort ein Praktikum gemacht und mich in die Stadt verliebt. Ich hatte vor zu bleiben, doch die Ausländerbehörde hat sowohl meine Aufenthaltskarte als auch meinen elektronischen Aufenthaltstitel als Familienangehörige von EU-Bürger*innen abgelehnt. Nun möchte ich ein Visum beantragen, doch aktuell gibt es keine freien Termine. Ich fühle mich machtlos und von beiden Ländern nicht anerkannt.

In Italien habe ich Kulturvermittlung studiert. In Berlin möchte ich erst mein Deutsch verbessern und dann soziale Arbeit studieren. Aber noch stecke ich in Locorotondo fest und arbeite in einer Bar für weniger als fünf Euro pro Stunde. Inzwischen habe ich drei Arbeitsangebote in Museen und Hotels in Berlin verpasst. Wenn mir das Warten zu viel sei, solle ich doch einfach nach Albanien zurückkehren, haben mir die Beamt*innen in Italien gesagt. All das ist psychisch sehr belastend und hat schon zu Depressionen und körperlichen Rückschlägen geführt. Ich will meinen Traum nicht aufgeben, aber oft frage ich mich, ob mir die Kraft reicht.

„Wenn ich die italienische Staatsbürgerschaft erhalte, werde ich als Erstes meinen Wahlschein holen“

Omar Neffati, 26, kam mit sechs Monaten nach Italien und hat einen tunesischen Pass

Geboren wurde ich 1995 in Tunesien. Als meine Mutter und ich nach Italien kamen, war ich gerade sechs Monate alt. Meine ersten Worte waren auf Italienisch. Italien ist mein Zuhause, aber die italienische Staatsbürgerschaft habe ich immer noch nicht. Mein erster Antrag auf Einbürgerung wurde abgelehnt, weil mein Einkommen zu niedrig war. 2016 habe ich ihn neu gestellt und warte bis heute auf eine Antwort.

Die Staatsbürgerschaft ist nicht bloß ein Papier, das mein Italienischsein bescheinigen soll. Sie ist ein Schlüssel zu Ämtern und Karrieren, die mir bis heute versperrt sind. Ich würde mich etwa gerne für meine Stadt, Viterbo, engagieren. Doch ich kann nicht bei Wahlen antreten und nur beschränkt im öffentlichen Dienst arbeiten. Mein Studium der internationalen Beziehungen, meine Erfahrung als politischer Aktivist, meine multikulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit spielen da keine Rolle. Wählen kann ich auch nicht. Sogar das Recht, in meinem eigenen Land zu bleiben, muss ich mir immer wieder neu verdienen: Ich darf nicht riskieren, zwischendurch meine Arbeit zu verlieren, sonst bekomme ich keine Aufenthaltserlaubnis. Ohne Aufenthaltserlaubnis wäre ich illegal und könnte nach Tunesien abgeschoben werden.

Ich habe immerhin das Glück, eine Ausbildung genossen zu haben. Das schenkt mir kulturelles Kapital. Ich begreife meine Situation und kann sie deshalb leichter verändern. Andere haben dieses Privileg nicht und spüren nur Ärger und Frust. Und doch: Ich bin mir sicher, dass wir uns eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes erkämpfen werden, denn es geht um universelle Gerechtigkeit. Wenn ich die italienische Staatsbürgerschaft erhalte, werde ich als Erstes meinen Wahlschein holen – hoffentlich rechtzeitig für die nächste Parlamentswahl 2023.

„Die Staatsbürgerschaft sollte ein Recht sein und keine Auszeichnung für besondere Verdienste“

Fioralba Duma, 32, kam mit elf Jahren nach Italien und hat einen albanischen Pass. Auch sie ist Aktivistin bei „Italiani senza cittadinanza“. 

Der italienische Traum meines Vaters ist bereits im italienischen Klang meines Vornamens enthalten: Fioralba. 2000 hat er Albanien verlassen. Ein Jahr später, ich war damals elf, sind meine Mutter, meine Schwester und ich ihm gefolgt. Wir sind mit einem Touristenvisum nach Italien eingereist und dann geblieben.

Obwohl mir als Tochter von Einwander*innen davon abgeraten wurde, habe ich das klassische Gymnasium besucht und dann Psychologie in Rom studiert. Darauf bin ich stolz. Doch ich musste auf vieles verzichten. Der Wohnsitzfrist von zehn Jahren, die ich irgendwann zur Einbürgerung würde vorweisen müssen, war ich mir schon immer bewusst. So habe ich es mir als Jugendliche nicht mal erlaubt, von einer längeren Arbeitserfahrung im Ausland zu träumen.

Heute bin ich 32 Jahre alt, wohne in Rom, bin als Kommunikationsexpertin im sozialen Bereich tätig und habe immer noch keinen Anspruch auf die italienische Staatsbürgerschaft. Wegen meiner als prekär geltenden Arbeitssituation erfülle ich die Einkommensvoraussetzung nicht. Doch die Staatsbürgerschaft sollte ein Recht sein und keine Auszeichnung für besondere Verdienste. Das Einkommen dürfte dabei keine Rolle spielen, insbesondere nicht in einem Land, wo die Arbeitslosenquote vor allem unter jungen Menschen hoch und Schwarzarbeit weit verbreitet ist.

Unsere Existenz als Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft ist durch Atemlosigkeit geprägt, denn all unsere Lebensentscheidungen werden durch unfassbare, ungerechte Anforderungen beeinflusst.

Fotos: privat

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.