Liebe Frau R.,

es war ein Abstieg in die Hölle für mich, donnerstags, siebte Stunde – Ihre Stunde. Bei den anderen kam schon in der Jungenumkleide ausgelassene Unruhe auf. Und bei mir: eine lähmende Vorahnung wie Blei. Ich zwängte mich in die verhasste Jogginghose, wurde mir immer fremder in den lächerlichen Klamotten, war als Letzter umgezogen. Und auch sonst bis zum erlösenden Gong: in allem der Letzte.

Ich war nicht einmal dick, hatte weder einen Klumpfuß noch X-Beine. Ich war lediglich auf mir unverständliche Weise unfähig zu allem, was Sie verlangten. Beim Badminton hatte ich den Ball fest im Blick und schlug doch einen halben Kilometer daneben. Meine Laufgeschwindigkeit ließ sich verlässlich schätzen, indem man das Durchschnittstempo der Fünftklässler durch vier teilte. Und wo immer ich nach Luft japste, mich in irgendwelchen Seilen verhedderte oder vom Reck fiel, warteten Sie bereits mit dem Blick eines Oberfeldwebels. 

„Ich war auf mir unverständliche Weise unfähig zu allem, was Sie verlangten“

Inzwischen weiß ich: Ich bin nicht allein mit dieser Erfahrung. Im vergangenen Jahr schlossen sich Tausende einer Petition zur Abschaffung der Bundesjugendspiele an. Auch die Wissenschaft hat die Traumata der Sportschwachen dokumentiert: Das Fach habe ein „hohes Beschämungspotenzial“, sagt Ina Hunger, eine Sportprofessorin der Uni Göttingen, die in ihren Forschungen die Schülerinnen und Schüler befragte, die sich, so wie ich, nur auf der Bank am Rande des Spielfelds halbwegs sicher fühlten. „Im Sportunterricht fällt es Schülern schwerer als in anderen Fächern, sich von ihrem Versagen zu distanzieren.“

Denn Sport ist für viele Schüler nicht wie Mathe oder Englisch, erklärt Hunger, und auch ich empfand Sport als einen großen Übergriff im Stundenplan, ein Fach ohne Tafel und Bücher, dafür so viel intimer, existenzieller, die Misserfolge brennen sich stärker in die Seele ein als in anderen Fächern. Man schüttelt sie nicht so einfach ab wie eine Fünf im Vokabeltest, bei dem man vielleicht nur zu faul zum Lernen war. Sie bleiben kleben am eigenen Körper, dem man nicht entkommen kann. Sie lassen sich nicht nach Unterrichtsschluss einfach in die Ecke werfen wie ein Matheheft, denn in ihnen schwingt immer auch ein Urteil über das Leben jenseits der Schule mit, über die Freizeittauglichkeit, über die Frage der Zugehörigkeit zu den coolen Kids. Zu denen gehörte ich natürlich nicht. Deswegen holten mich die coolen Kids beim Zusammenstellen der Mannschaften auch immer als Letzten in ihr Team. 

Wenn man sagt, jemand habe sich sportlich verhalten, gilt das meistens als adelnde Bemerkung. Sport soll für Werte wie Fairness stehen, für Teamplay und Miteinander. Ein Schulfach wie Mutter Teresa. Auch Sie, Frau R., schwangen von Zeit zu Zeit solche Reden. Ich verstehe bis heute nicht, wie man zu dieser Einschätzung kommen kann. Für mich stand Sport für alles Schlechte, was die Gesellschaft hervorbringen kann: Konkurrenzdenken, Herabwürdigung, Ellenbogen.

„Mit einem Mal wurde meine Konditionslosigkeit sogar ein moralisches Problem“

Und dann kamen Sie und Ihre Kollegen eines Tages auch noch auf die Idee, einen Sponsorenlauf für das Afrika-Projekt unseres Gymnasiums zu organisieren. Ein paar Einzelhändler aus dem Ort verpflichteten sich zu einer Spende für jeden Kilometer, den wir Schüler auf den Feldwegen hinter der Schule joggten. Mit einem Mal wurde meine Konditionslosigkeit sogar ein moralisches Problem. Ich meldete mich krank, mit schlechtem Gewissen. Aber auch irgendwie empört.

Überhaupt fand ich viele Vorwände. Beim Schwimmen behauptete ich, nicht im Besitz einer Badehose zu sein. Ich errechnete, wie häufig ich bis zum Halbjahresende noch fehlen dürfte. Ich spekulierte darauf, dass Sie mein gemächliches Gehen beim Sprinten schon irgendwie als Teilnahme werten würden. Schlechter als eine Vier in Sport, das geht eigentlich gar nicht, dachte ich. Sie belehrten mich eines Besseren. Meine Note musste ich im Abitur schließlich mit Latein ausgleichen. Ausgerechnet.

Muss Sport so demütigend sein? Vielleicht hätte man es so machen können wie am Schiller-Gymnasium in Köln. Die Lehrer dort verzichten auf Sportnoten, zumindest bis zur achten Klasse – eine Regelung, für die sie beim Kultusministerium gekämpft haben.

„Ich bin kein tollpatschiger Körper, der am Ende des Schuljahres mit 'ausreichend' oder 'mangelhaft' etikettiert wird“

Wo Sie mir damals eine Fünf ins Zeugnis klatschten, steht bei den Schiller-Schülern heute: siehe Anlage. Jeder bekommt einen individuellen Rückmeldebogen. Die Athleten der Klasse, sagt Sportlehrer Simon Guardiera, vermissen zwar manchmal ihre Eins. „Aber die Schwachen profitieren umso mehr.“ Weil sie lernen: Ich bin kein tollpatschiger Körper, der am Ende des Schuljahres mit „befriedigend“, „ausreichend“, „mangelhaft“ etikettiert wird. Ich kann doch etwas. Ein Allheilmittel ist es vielleicht nicht, aber ein Anfang. 

Bei uns schmiedeten im letzten Schuljahr alle große Pläne für die Zukunft: Work and Travel in Australien. Sich für ein Studium in Oxford bewerben. Arzt werden. Oder Anwalt. Ich hatte nur einen ernsthaften Vorsatz: keinen Sport mehr. Niemals. War das Ihre Absicht, liebe Frau R.? 

Viele Grüße,
Ihr Bernd (Abi-Jahrgang 2004)

PS: Vor drei Wochen habe ich mich doch noch im Fitnessstudio angemeldet. Trotz allem.

Horrorfach? Lieblingsfach!

Nicht jeder hasst Sport, bei den meisten Schülerinnen und Schülern ist das Fach sogar äußerst beliebt. Das zeigt unter anderem die große DSB-Sprint-Studie über den Schulsport, für die vor zehn Jahren rund 9.000 Schüler in verschiedenen Bundesländern befragt wurden. Drei Viertel von ihnen besuchen den Sportunterricht gern, generell gern zur Schule geht dagegen nur die Hälfte. Zwei Drittel der Schüler freuen sich jedes Mal auf den Sportunterricht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht der eine oder andere unter dem Fach leidet: Die Sportschwachen fühlen sich schließlich umso isolierter, je begeisterter ihre Klassenkameraden mitturnen. Aufschlussreich sind zudem die Details: Bei Jungen ist das Fach beliebter als bei Mädchen; und je älter die Schüler werden, desto geringer ist ihre Begeisterung - was aber für die Schule generell gilt. Vor allem wünschen sich die Schüler mit zunehmende Alter, dass Sport weniger ein Leistungsfach ist, sondern ein Ausgleich zum stressigen Schulalltag.  Dass Schulsport gut für die Gesundheit ist und einen Ausgleich zum Schulalltag im Sitzen darstellen kann, ist eines der wichtigsten Argumente für das Unterrichtsfach. Die Sprint-Studie urteile, dass außerschulischer Sport den Schulsport nicht ersetzen könne. 

Auch Experten diskutieren regelmäßig, wie leistungsorientiert der Sportunterricht sein sollte – Allerdings werden Sportnoten inzwischen „offenbar anders vergeben als in anderen Unterrichtsfächern“, wie die Sportstudie feststellte und kritisierte. Weichere Kriterien wie Sozialverhalten der Schüler dominierten die Bewertung, nur für knapp 60 Prozent der Sportlehrer sind die Leistungen für die Notengebung besonders relevant. Vor allem verteilen sie deutlich bessere Zensuren als andere Fachlehrer. 

Foto: Julia Fischer