Von ihrer Abschiebung hat Raksmay immer wieder geträumt. Zurück nach Kambodscha, wo sie aufgewachsen ist und wo sie BWL studiert hat. Zurück nach Kambodscha, wo ihr Vater getötet wurde, weil er ein Oppositioneller war, und wo sich Raksmay nicht mehr sicher fühlte. Deshalb kam sie vor fünf Jahren mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder nach Deutschland.

Adam wurde in seinen Träumen noch nicht ab­geschoben, sondern war gleich wieder in seiner Heimat Dagestan, die der 24-Jährige vor vier Jahren verließ. Direkt neben Tschetschenien gelegen, ist die russische Kaukasusrepublik immer wieder Schauplatz von Anschlägen militanter Islamisten. Die staatlichen Sicherheitskräfte­ gehen dagegen vor, aber dabei machen sie laut Adam keinen großen Unterschied zwischen Dschihadisten und nicht extremistischen Muslimen, um die Prämien aus Moskau für erfolgreiche Antiterroraktionen zu kassieren. So durchsuchen sie auch schon mal Wohnungen, um Munition oder Drogen zu finden, die sie dort selbst deponiert haben. Oder sie lassen Menschen verschwinden. Es kann schon reichen, wenn ein Familienmitglied ins Visier der falschen Leute gerät, um in Dagestan nicht mehr sicher leben zu können

Die Angst vor Verfolgung und Repression hat Adam und Raksmay nach Deutschland gebracht, wo beide sogenannte Geduldete sind oder „vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer“, wie das im Amtsdeutsch heißt. Die Asylanträge von Adam und Raksmay wurden abgelehnt, weil sie nicht nachweisen konnten, dass eine individuelle Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung, Religion, Sprache oder Herkunft droht. Eine allgemein unsichere Lage im Land reicht für die Anerkennung nicht aus. Die Situation der Geduldeten regelt wiederum das „Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet“, und darin finden sich Begriffe wie „Aufenthalts­gewährung“, „Zurückschiebung“ und „Ermessensausweisung“. Mutmachend klingt das nicht.

Geduldete haben keinen „Aufenthaltstitel“ in Deutschland. Sie sollen eigentlich abgeschoben werden, aber aus „tatsächlichen oder rechtlichen Gründen“ geht es nicht. Etwa weil sie selbst oder Familienangehörige schwer erkrankt sind, weil Ausreisedokumente fehlen oder manchmal sogar, weil es ge­rade keine direkte Flugverbindung ins Herkunftsland gibt. In Staaten, in denen aufgrund der Situation vor Ort eine Gefahr für das Leben besteht, etwa wegen eines Krieges, wird ebenfalls nicht abgeschoben. Die Auswahl dieser Staaten kann sich, um es noch ein wenig komplizierter zu machen, von Bundesland zu Bundesland unterscheiden.

Familien mit minderjährigen Kindern sollen nicht zerrissen werden, wobei man schon ab dem 17. Lebensjahr als „asylmündig“ gilt. Das führt dazu, dass Kinder aus manchen Flüchtlingsfamilien nach ihrem 16. Geburtstag in ein Land abgeschoben werden, in dem sie mitunter nur wenige Jahre ihres Lebens verbracht haben, und manchmal nicht mal das: Denn selbst Kinder, die hier geboren wurden, sind nicht automatisch Deutsche, wenn ihre Eltern zum Zeitpunkt der Geburt nur geduldet waren. Vielfach wird keine Geburtsurkunde beantragt, denn dazu müssten die Eltern dem Standesamt ihren Personalausweis, einen Reisepass oder ein anderes anerkanntes Passersatzpapier vorlegen. Das können oder wollen sie oftmals aber nicht.

Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Angst – die Unsicherheit hinterlässt Spuren

94.508 Menschen lebten Ende 2013 als Geduldete in Deutschland, mehr als ein Drittel von ihnen befindet sich schon seit mehr als fünf Jahren in diesem Zustand, über 10.000 sogar schon mehr als 15 Jahre. Über die Hälfte der Geduldeten sind jünger als 29 Jahre. Sie hängen in einer Zwischenwelt fest, leben von einer Duldung zur nächsten, oft hält die Sicherheit nur drei oder sechs Monate, dann wird die Durchführung einer Abschiebung wieder überprüft. „Das hat mich sehr passiv gemacht“, beschreibt Adam seine Situation. Auch Raksmay haben die dauernden Gedanken an eine Abschiebung in den ersten Jahren, die sie in Deutschland verbracht hat, zugesetzt: „Ich konnte nicht schlafen, hatte immer Kopfschmerzen, genau wie meine Mutter und mein Bruder. Man kann fast nichts machen, außer zu Hause rumzusitzen. Es fühlte sich an, als sei mein Leben schon vorbei.“

Aktuell hat Raksmay das seltene Glück, für volle 18 Monate geduldet zu sein, weil sie ihren Mittleren Schulabschluss (MSA) nachholt. Dabei hat die 27-Jährige sogar schon einen Bachelorabschluss, allerdings wird der hier nicht anerkannt.

Für Adam geht es derzeit darum, eine Ausbildungs­stelle als Physiotherapeut zu finden. Einen Studienplatz oder eine Arbeitserlaubnis zu bekommen war bisher für ihn fast unmöglich. „Ich fühle mich so eingeschränkt wie im Knast“, sagt Adam. Das Internet hilft ihm bei der Alltagsbewältigung, hier informiert er sich über die Lage in seiner Heimat und hält auf Facebook und in russischen sozialen Netzwerken Kontakt zu Freunden von früher, die zum Teil in Dagestan leben, zum Teil aber auch in anderen deutschen Städten, in Frankreich oder Italien. Berlin verlassen dürfen Adam und Raksmay bislang nur mit einer Ausnahmegenehmigung. Residenzpflicht nennt sich das – die aber in Zukunft gelockert werden soll, so dass zum Beispiel Familienangehörige, die in einem anderen Landkreis wohnen, frei besucht werden können.

„Man fühlt sich wie ein Loser“

Freundschaften zu Deutschen haben Adam und Raksmay bisher kaum geschlossen. Das liegt ein wenig daran, dass sie beide recht schüchtern sind. Aber auch, weil sie sich dafür schämen, dass sie Geduldete sind und von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) leben, die das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum abdecken sollen.­ „Man fühlt sich wie ein Loser, als sei man nicht so intelligent“, sagt Adam. „Die meisten Leute wollen darüber auch nichts hören. Die kennen das nicht und verstehen überhaupt nicht, was mein Problem ist.“

Dass ein Bleiberecht für Menschen wie Raksmay und Adam so schwer zu bekommen ist, hat auch wieder mit Angst zu tun. Der Angst des Staates, ausgenutzt zu werden, der Angst, dass auf einmal viel mehr Leute nach Deutschland kommen und hier bleiben wollen, auch wenn sie in ihrer Heimat gar nicht verfolgt werden, einfach weil es so leicht geht. Und aus Angst erwächst schnell Misstrauen, also wird den Menschen, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, das Leben lieber ein wenig unkomfortabler gestaltet. Im Zweifel für den Zweifel.

Immerhin wurde Anfang 2005 eine Instanz geschaffen, die mit dem Zweifel umgehen soll: die Härtefallkommissionen. Jedes Bundesland hat so eine, sie sind ein Zugeständnis an die Tatsache, dass selbst die ausgefeiltesten Gesetzestexte eben nicht immer für jeden Einzelfall das erreichen, was sie sollen. Die Kommissionen bestehen meist aus sieben bis zehn Mitgliedern, darunter sind in der Regel Vertreter der Innenbehörde, der Ausländerbehörde, von Kirchen, Landeswohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsinitiativen. Sie prüfen die Anträge und geben eine Empfehlung ab. Erheblich straffällig gewordene Menschen haben zum Beispiel keine Chance, wobei das laut einer Flüchtlingsinitiative mitunter schon beim mehrmaligen Fahren ohne Fahrkarte, also einem „Erschleichen von Leistungen“, vorkommen kann.

Das Bundeskabinett hat kürzlich eine Reform des Bleiberechts auf den Weg gebracht, die geduldeten Menschen, die gut integriert sind, stichtagsunabhängig die Chance auf einen Aufenthaltstitel bietet. Andererseits soll es aber noch einfacher werden, etwa straffällig gewordene Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus auszuweisen. Flüchtlingsorganisationen und Opposition kritisieren die Pläne scharf. Nun soll sich der Bundestag mit dem Gesetzesentwurf befassen.Die Entscheidung liegt aber letztlich bei den jeweiligen Innenministerien. In der Vergangenheit hat die Innenministerkonferenz immer mal wieder Geduldeten unter bestimmten Bedingungen – etwa weil sie zu einem Stichtag ausreichend lange in Deutschland lebten und sich um einen Arbeitsplatz bemühten oder eine Beschäftigung nachweisen konnten – ohne Einzelfallprüfung ein verlängertes Bleiberecht gewährt. Flüchtlingsverbände, aber auch mehrere Parteien wollen noch weiter gehen: Sie fordern eine stichtagsunabhängige Regelung, die den zermürbenden Kettenduldungen ein Ende setzt.

Adam und Raksmay stehen beide auf der Liste der Berliner Härtefallkommission. Bis ihr Fall geprüft wird – einen festen Termin dafür gibt es nicht –, können sie sicher in Deutschland bleiben. Und dann? Die kurzfristige Hoffnung von Raksmay und Adam ist: ein sicheres Leben in Deutschland führen zu können, eine Perspektive zu haben, und sei es erst mal für einige Jahre. Denn die beiden wollen gar nicht für immer in Deutschland bleiben. Sie hoffen darauf, dass sie sich irgendwann in ihren Ländern wieder sicherer fühlen können. Dann wollen sie zurück.

Michael Brake arbeitet freiberuflich als Autor und Redakteur, unter anderem für fluter.de, die taz und Zeit Online. Normalerweise schreibt er über weniger existenzielle Themen: Comics, Internetkultur und Tiere nämlich.