Im letzten Wahlkampf war es das Zauberwort: Arbeit. Eine Partei verkündete: „Sozial ist, was Arbeit schafft andere: „Arbeit muss sich wieder lohnen“, die nächste:„Arbeit soll das Land regieren“. Die Zustimmung der Wähler hatten all diese Parolen sicher. Einer Umfrage zufolge fürchten sich die Deutschen mehr vor dem Verlust des Arbeitsplatzes als vor einer schweren Krankheit. Den rund viereinhalb Millionen Arbeitslosen stehen über 1,4 Milliarden bezahlte Überstunden gegenüber. Arbeit ist anstrengend, aber man kann nicht genug von ihr bekommen.„Wir sind, was wir tun.“ So sehr ist dieser Glaubenssatz verinnerlicht, dass viele Menschen jene Momente gar nicht mehr genießen können, in denen sie einfach mal nichts tun. Für faul will niemand gehalten werden. Aber warum hat Arbeit in unserer Gesellschaft diesen hohen Wert?
In der griechischen Polis oder im antiken Rom hätten Parolen wie die oben genannten Entsetzen ausgelöst. Jede Form von körperlicher und kommerzieller Erwerbstätigkeit galt als erniedrigend. Wer konnte, überließ das Arbeiten den Sklaven. Der freie Bürger war arbeitslos, aber nicht untätig. Er hatte Zeit, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen: mit den Künsten, dem Philosophieren und der Politik. Im jüdisch-christlichen Kulturkreis wurde Arbeit bis ins Mittelalter hinein als Fluch begriffen. Arbeit war – so steht es im Alten Testament – die Strafe, die Gott über Adam und Eva und all ihre Nachfahren für die Ursünde verhängt hatte. Erst im jenseitigen Paradies wartete der natürliche Urzustand: eine Existenz in ungetrübter Freude – von Arbeit befreit.
Wer es dorthin schaffen wollte, durfte auf Erden allerdings nicht zu viel schuften. Denn wer Reichtümer anhäufte oder sich keine Zeit zur inneren Einkehr ließ, galt als ungläubig: Er zeigte sich fern von Gott. Erste Ansätze, Arbeit spirituell aufzuwerten, gab es im Mittelalter.„Ora et labora“, hieß der Leitspruch des 529 gegründeten Benediktinerordens. In den Klöstern lebten die Mönche und Nonnen – als Knechte Gottes – in einer strikt durchorganisierten Ordnung aus geistigen Pflichten und weltlicher Arbeit. Durch die einsetzende Geldwirtschaft und das sich entwickelnde Staatswesen wurde die Erwerbstätigkeit seit dem 13.Jahrhundert auch zu einem immer wichtigeren gesellschaftlichen Faktor. Staatliche Moralwächter bemühten sich deshalb darum, Arbeit als besonders tugendhaft darzustellen.
An der allgemeinen Mentalität änderte dies allerdings zunächst nur wenig. Die meisten Menschen arbeiteten nur so viel, wie sie zum Leben brauchten. Und die Eliten sahen in der Arbeit nach wie vor den Feind des freien Geistes. Ihre entscheidende Aufwertung erfuhr Arbeit durch die Reformation und den Protes-tantismus calvinistischer Prägung im 16.Jahrhundert.Nach der Lehre des in Genf wirkenden Reformators Johannes Calvin (1509 –1564) gibt es zwei Gruppen von Menschen: die von Gott Auserwählten und diejenigen, die dazu verdammt sind, die Ewigkeit in der Hölle zu verbringen. Ein Mensch gehört zu den Auserwählten wenn er bereit ist, hart zu arbeiten und Verzicht zu üben. Fleiß, Disziplin und Askese gelten den Calvinisten als höchste Tugenden .Maximale Profite zu erzielen war fortan nicht nur geduldet, sondern Pflicht eines Gläubigen, irdischer Erfolg war Beleg für die Gnade Gottes.
Nach Meinung des Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864–1920) schuf die auf dieser Sicht fußende „protestantische Ethik“ die Basis für den modernen Kapitalismus und führte letztlich zur Industrialisierung. Der neue, strenge Wertekatalog ermöglichte es den Manufaktur- und Fabrikbesitzern, die Menschen zu disziplinieren und in das industrielle System zu fügen. Bis zum 19.Jahrhundert hatte das kapitalistische System die protestantische Ethik zu seinen Zwecken säkularisiert und in ein wirkungsvolles Arbeitsethos gegossen: Erwerbstätigkeit wurde zur sozialen Pflicht, zu einer gesellschaftlichen Norm ,zum Selbstzweck. Immer mehr Menschen strömten vom Land in die Stadt und in die Fabriken. Der Arbeitsplatz wurde zum Lebensmittelpunkt, die durchschnittliche Arbeitszeit betrug in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts um die 15 Stunden täglich.
Die Arbeitszeit wurde später auf ein menschenverträgliches Maß gekürzt, aber die von der Industrialisierung eingeleitete Entwicklung war unumkehrbar: Aus der Gesellschaft, in der Menschen arbeiteten, um zu leben, war die Arbeitsgesellschaft geworden. Heute geht dieser Arbeitsgesellschaft immer mehr die Arbeit aus. Menschen, die auf Arbeit programmiert sind, empfinden eine solche Situation als schwere Krise – das von ihnen wie von den arbeitenden Mitmenschen verinnerlichte Arbeitsethos erweist sich als Problem. Denn unsere Gesellschaft neigt dazu, Arbeitslose unter Generalverdacht zu stellen: Sind das nicht Faulenzer, die sich in der Hängematte des Sozialstaats ausruhen wollen? Durch diese Haltung werden die Betroffenen doppelt bestraft: Sie müssen mit den finanziellen Folgen der Erwerbslosigkeit kämpfen und werden sozial ausgegrenzt.
Eine Gesellschaft, die für immer weniger Menschen bezahlte Arbeit hat, aber weiterhin zum höchsten Gut erhebt, wird auf Dauer immer mehr unglückliche Bürger produzieren. In jüngster Zeit gibt es deshalb verstärkt Stimmen, die ein Umdenken fordern. Unter ihnen sind der amerikanische Philosophieprofessor Frithjof Bergmann und der deutsche Historiker und ehemalige FAZ- und Welt Redakteur Eberhard Straub. Bergmann wirbt für ein neues Verständnis von Arbeit. Er meint, unsere Gesellschaft würde besser funktionieren, wenn die Menschen weniger arbeiten würden und mehr Zeit hätten, sich selbst zu verwirklichen und Dinge für den eigenen Bedarf zu produzieren. Zu Straubs Forderungen gehört, sich von der Idee der Vollbeschäftigung zu verabschieden und die Erwerbslosigkeit als neue, weit verbreitete Lebensform zu akzeptieren (siehe Interview). „Wir müssen den Menschen, die keine Arbeit finden das Gefühl geben, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind“, sagt Straub.„Sonst droht diese Gesellschaft auseinander zu brechen.“