In einer Novembernacht im Jahr 2002 erhält der US-Mathematiker Mike Anderson eine Mail. Er liest die Anrede „Sehr geehrter Herr Anderson“, dann den verlinkten Fachaufsatz, aber er versteht ihn nicht ganz. Bis in die Morgenstunden beschäftigt ihn der Inhalt. Auch bei seinen Kollegen, die die gleiche Mail bekommen haben, bleibt in dieser Nacht das Licht an. „Sehe ich das richtig“, schreibt Anderson um 5:38 Uhr seinen Kollegen, „hat dieser Grigori Perelman da gerade fundamentale Probleme der Mathematik gelöst?“ Er sah richtig. Perelman, der Absender, hatte soeben den Mount Everest der Mathematik bestiegen. Das Problem war nur, dass er mit Höhenkrankheit wieder runterkam.

36 Jahre zuvor, 1966, wurde Grigori Perelman in Leningrad geboren. Früh zeigt sich bei ihm das Talent, mathematische Probleme zu lösen. Die Begabung hat er von seiner Mutter, die daraus nichts machen konnte, weil sie das Pech hatte, doppelt benachteiligt zu werden – als Jüdin und als Frau. So schickt sie ihren Sohn in den Matheclub, später in die Leningrader Matheschule Nr. 239. Selbst unter den Exzentrikern der Schule ist Grigori bald der Kauz. Er sitzt in der letzten Reihe, meldet sich nur dann, wenn kein anderer weiterweiß, und hält ansonsten den Mund. Wenn er über Aufgaben grübelt, summt er Violin-Soli.

Auf Sonntage freut er sich besonders. Da kann er endlich ein paar Aufgaben in Ruhe lösen. Mathematik ist zu dieser Zeit ein Staatssport, einer, der sowjetische Bürger selbst im Westen zu gut bezahlten Koryphäen macht – ganz ähnlich wie beim Schach, das in Russland seit jeher mit großem Eifer gespielt wird. In jedem zweiten Jahr gewinnt das Team der Sowjetunion die Internationale Matheolympiade. Auch Perelman macht 1982 mit, als 16-Jähriger. Ergebnis: Höchstpunktzahl. Goldmedaille.

Mit 16 geht er von der Schule ab, promoviert mit 24. Er beginnt sich immer mehr wie das Fach zu verhalten, das er beherrscht: logisch, nach strengen Regeln und für die meisten Menschen undurchschaubar. Ein Kommilitone erinnert sich, dass er stets dasselbe Sakko getragen und immer das Gleiche gegessen habe. Über Brot habe er oft gesprochen, das sei ihm irgendwie sehr wichtig gewesen. Die Fingernägel lässt er so lang wachsen, bis sie sich krümmen.

Perelman hat damals das Glück, in die Zeit von Perestroika und Glasnost hineinzuwachsen. Die Sowjetunion öffnet die Türen nach innen und nach außen. Anfang der 90er-Jahre  geht er in die USA, forscht und lehrt ein paar Jahre, löst ein mathematisches Meisterproblem namens „Seelen-Theorem“ und kehrt 1995 zurück. Sein Spezialgebiet: Topologie. Er und seine Kollegen rätseln über „Alexandrow-Räume“ und den „Ricci-Fluss“. Und das Problem von Poincaré. Als er beginnt, das Problem zu erforschen, erzählt er niemandem davon. Mit gutem Grund: Einige Dutzend Mal hatten Mathematiker behauptet, das Problem von Poincaré gelöst zu haben. Sie irrten. Bis Perelman in jener Nacht im Jahr 2002 auf den Senden-Knopf drückte.

Vier Jahre später verleiht man ihm die Fields-Medaille, eine der höchsten Auszeichnungen der Mathematik, vergleichbar mit einem Nobelpreis. Perelman lehnt sie ab. Seine Begründung: Wer eines der sieben Welträtsel gelöst hat, welche Anerkennung braucht er dann noch? Weil die Poincaré-Vermutung zu den sogenannten Millenniumsrätseln gehört, bietet man ihm sogar ein Preisgeld von einer Million Dollar an. Und Perelman? Lehnt ab. Das Geld habe ein anderer genauso verdient. Mehr als mit seinem Beweis erlangt er mit diesen Gesten Weltruhm.

Doch je intensiver sich die Öffentlichkeit für ihn interessiert, desto mehr zieht er sich zurück. Reportern, die nach ihm fragen, sagt er bald: „Halten Sie mich für tot.“ Nur einmal noch spricht Perelman mit einer Journalistin. „Ich interessiere mich weder für Geld noch für Ruhm“, vertraut er einer Reporterin des „New Yorker“ an, während sie 2006 durch St. Petersburg spazieren. „Ich suche nach ein paar Freunden. Sie müssen auch keine Mathematiker sein.“

Jan Ludwig lebt in Israel und arbeitet von dort als freier Journalist für deutsche Zeitungen und Magazine, unter anderem für die FAZ, GEO, ZEIT und Süddeutsche Zeitung.