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Er fühlt’s nicht

Die Graphic Novel „Trubel mit Ted“ zeigt, wie jemand die Welt wahrnimmt, für den Menschen und Gefühle ein Rätsel sind

  • 4 Min.
Trubel mit Ted

Ted ist 26 und lebt jeden Tag nach einem strengen Plan. Das Unvorhersehbare macht ihm Angst. Er trägt immer das gleiche Hemd, je nach Wochentag ein anderes. Samstags blau, sonntags grün, wie eine Uniform. Wenn er mit der Metro fährt, dann sitzt er immer auf dem gleichen Platz, und wenn dieser belegt ist, geht Ted zu dem Menschen, der darauf sitzt, und sagt: „Das ist mein Platz.“ Er zwängt seine langen Beine zwischen die Sitzreihen, obwohl die ganze U-Bahn leer ist. Ted ist schlaksig und irgendwie zu groß für die Welt um ihn herum.

Andere Graphic Novels stellen ihre Held*innen vor ein schier unlösbares Problem in Form von Gegnern, Todesfällen oder Rätseln, damit die Story so richtig starten kann. In „Trubel mit Ted“ beginnt die Handlung mit einem simplen Schild mit der Aufschrift „Bauarbeiten: keine Linie 4 für zwei Wochen“. Was für andere eine Kleinigkeit ist, ist für Ted der Beginn einer Odyssee. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Betroffene sind oft sehr intelligent, können sich aber nicht gut in andere Menschen hineinversetzen oder mit unvorhergesehenen Situationen umgehen. Welche Folgen das haben kann, davon erzählt Emilie Gleason in ihrer Graphic Novel „Trubel mit Ted“. Inspiriert wurde sie von ihrem Bruder, bei dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde.

„Und, hat es Ihnen gefallen?“, fragt eine Frau aus dem Seniorenchor. „Nein! Es war schrecklich“, sagt Ted

Drei Stunden steht Ted an diesem Morgen zitternd am Gleis, hört das Ticken seiner Armbanduhr und ist innerlich in Aufruhr. Dieser Zustand wird als „sensory overload“ bezeichnet. Eine totale Überforderung, die Autist*innen manchmal tagelang aus der Bahn wirft. Ted kommt erst zu sich, als ihm eine betagte Dame auf die Schulter tippt. Doch er ist orientierungslos und kann nicht zu seinem Tagesablauf zurückkehren. Stattdessen lässt er sich durch die Stadt treiben, lauscht einem Seniorenchor, beobachtet einen Autounfall und landet in einem Sexshop.

Trubel mit Ted

Damit rechnet niemand: Manche Autisten haben Inselbegabungen und können komplexe Rechenaufgaben lösen – oder sich alle Buchsignaturen in einer Bibliothek merken

Gefühle, Mimik, Gestik, Ironie, Liebe, Sex – das alles ist für ihn ein Rätsel. Lächeln oder Mitgefühl zeigen muss er sich mühsam antrainieren. Ted nimmt die Dinge wörtlich und sagt fast immer die Wahrheit. „Und, hat es Ihnen gefallen?“, fragt eine Frau aus dem Seniorenchor. „Nein! Es war schrecklich“, sagt Ted. Gleason gelingt es nicht nur an dieser Stelle, lustig zu sein, ohne sich lustig zu machen.

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trubel mit ted

Emilie Gleason: „Trubel mit Ted“. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition moderne, 128 Seiten, 24 Euro

Emilie Gleason muss nicht mit Worten erklären, was Ted wahrnimmt und empfindet: Sie zeigt es mit ihren Bildern. Teds Welt ist bunt, grell und laut: zu viel Lärm, Lichter und Gerüche. Nur die Gesichter der anderen sind schemenhaft, weil es Autist*innen oft schwerfällt, sich Gesichter zu merken. Wenn Ted alles entgleitet, dann entgleiten auch die gezeichneten Linien. Dann werden seine schlaksigen Beine zu wabernden Serpentinen, und die Dinge um ihn herum zerspringen zu unkontrolliertem Gekritzel.

Am Ende von Teds Odyssee wird er zur Gefahr für sich selbst und seine Umgebung. Seine Eltern entscheiden sich daher für eine Therapie in einer Klinik. Ted bekommt Medikamente, die helfen sollen, seine Ausbrüche zu unterdrücken. Er verändert sich, und die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf. Gleasons Graphic Novel – in roughem Stil wie ein Tagebuch gezeichnet – schafft es nicht nur meisterhaft, die Perspektive eines Menschen mit Autismus zu zeigen. Sie thematisiert die schwierigen Fragen, wie mit Menschen wie Ted umgegangen werden soll, wie selbstbestimmt er leben kann und wann Fürsorge übergriffig wird.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.