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Der Rave Riot und die Folgen

Im Mai beherrschte Georgien wegen Protesten der Rave-Szene in der Hauptstadt die Schlagzeilen. Mittlerweile ist in Tbilisi eine brüchige Ruhe eingekehrt – die Unzufriedenheit der Jugend bleibt

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Vor dem Parlamentsgebäude hatten sie ihr Soundsystem aufgebaut. Angetrieben von pumpenden Techno-Beats verteidigten sie ihre Lebensweise: lange Clubnächte; Sex ohne schlechtes Gewissen, ob homo- oder heterosexuell; gelegentlich Drogen. Manche kämpften einfach nur um das Recht, sie selbst zu sein. Eine Demonstration, getragen von der Energie eines Open-Air-Raves. „We dance together,  we fight together“, skandierten sie.   

Der Auslöser für den Protest, zu dem sich Tausende junge Georgier versammelten, fand ein paar Tage zuvor statt. Schwer bewaffnete Polizisten stürmten und räumten ihre liebsten Amüsierorte in Tbilisi, das Bassiani und die Café Gallery – nachdem die Clubs zu Umschlagplätzen für Rauschmittel erklärt worden waren. Muskelspiele eines Staates, dessen Autoritäten ein Freiheitsgefühl bekämpfen, das in Städten von Lissabon bis London selbstverständlich ist. 

Mindestens so aufregend wie subversive Rapper in Tunesien

Die Bilder dieser „Rave-o-lution“, die nach den Razzien in der georgischen Hauptstadt tobte, waren Reißer in westlichen Medien. Jugendkultur als Keim für Emanzipation in einer konservativen Gesellschaft: Das war mindestens so aufregend wie subversive Rapper in Tunesien oder systemkritische Bloggerinnen in Ägypten während der Blüte des Arabischen Frühlings im Jahr 2011. 

Was ist aus der Revolte geworden, deren Teilnehmer einen liberalen Umgang mit Rauschmitteln erstreiten wollten, sich aber auch LGBTQ-Rechten und feministischen Anliegen widmeten? 

 

Vor allem haben die Aktivisten erlebt, dass sie das politische Klima durcheinander wirbeln können. Giorgi Kwirikaschwili, der georgische Premierminister, trat einen Monat nach den Protesten von seinem Amt zurück; ein Abgang, der allerdings auch von einem Streit mit Kabinettsmitgliedern mitverursacht gewesen sein soll. Im August dann die Legalisierung des Konsums von Marihuana. Zuvor hatten zwei Bürger vor dem Verfassungsgericht gegen das Verbot geklagt; die Richter gaben den beiden Männern recht. 

Sehnsuchtsort von Hipster-Touristen und Kultur-Schickeria

Die Proteste selbst haben keine Fortsetzung gefunden. „Es ist schwer vorstellbar, dass die Bewegung ihr Engagement mit derselben Energie fortsetzen kann, wie sie in den Straßenprotesten zum Ausdruck kam“, sagt Sopho Verdzeuli, Beobachterin der georgischen NGO Human Rights Education and Monitoring Centre. Um relevant zu bleiben, müsste die Bewegung vor allem ihre Strategie überdenken. „Sie sollte weitere Anliegen thematisieren, die sich auf Interessen unterdrückter Gruppen beziehen.“

Die Aufstände vom Mai erscheinen wie eine Projektion westeuropäischer Sehnsüchte: Gerade dank seiner Clubszene ist Tbilisi längst ein Sehnsuchtsort von Hipster-Touristen und Kultur-Schickeria geworden. Georgien gilt als Schauplatz einer politischen Erweckung, die sich in einer postsowjetischen Ruinenlandschaft entfaltet. Das Klischee vom wilden Osten findet man auch auf der Frankfurter Buchmesse, wo Georgien in diesem Jahr als Gastland eingeladen ist. „Ein weichgespültes Georgien-Bild“ werde dort jedoch vermittelt, schreibt etwa Martin Gerner auf seinem Blog, ein Konfliktforscher und preisgekrönter Fernsehjournalist, der Umbrüche in Kaukasusstaaten analysiert. Ein Panorama der heutigen Gesellschaft sucht man da vergebens. Dabei würde eine weniger hedonistische Perspektive den Blick freilegen für das soziale Gesamtbild. 

Es sollte „intensiver über politische und wirtschaftliche Fragen gesprochen werden, über wirkliche Herausforderungen, von denen die Breite der Gesellschaft betroffen ist“, sagt Sopho Verdzeuli.

Denn für viele Georgier ist der Alltag ein Kampf, ob in Tbilisi oder tuschetischen Bergdörfern. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt mehr als 30 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei kümmerlichen 4.100 US-Dollar. Umweltprobleme belasten Land und Leute ebenso – in keinem anderen Winkel der Welt sterben, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung, hat eine WHO-Studie festgestellt. Fabriken und Autos, oft ausrangierte Wagen ohne Katalysator, pusten zu viele krebserregende Abgase in die Luft.  

Den Anarcho-Liberalismus verantwortet eine Regierung, die vor allem die Partei „Georgischer Traum“ stellt. Deren Chef ist der Oligarch Bidsina Iwanischwilli, ein Mehrfach-Milliardär mit guten Beziehungen zu Wladimir Putin. Seine Parteikollegen verschonen Reiche mit hohen Steuern und Abgaben. Alle anderen überlassen sie den Risiken des freien Markts. Ein System, das die Gesellschaft spaltet. Und zudem keinen Aufschwung herbeiführt. 

Wie könnte es weitergehen?

Georgiens Twenty- und Thirtysomethings kämpfen darum, nicht die Puste zu verlieren. Zum Beispiel Mano Svanidze: Die Mittzwanzigerin, die Betriebswirtschaft studiert hat, verkauft Bilder in einer Fotogalerie in einem Jugendstilviertel von Tbilisi – viele davon könnten auch in einem Laden an der Torstraße in Berlin-Mitte hängen. Nebenher arbeitet sie an der Rezeption eines Hostels und als freie Fotografin. Typisch sei das für ihre Generation. Sie spielt mit dem Gedanken, ins weniger ungemütliche Westeuropa zu ziehen. Damit ist sie nicht allein: 18 Prozent der Georgier im Alter zwischen 18 und 35 können sich vorstellen, für immer im Ausland zu leben.    

Eine Brüchigkeit, vor deren Hintergrund der Rave-Protest im Frühjahr wie das Wunschkonzert einer hedonistischen Avantgarde wirkt. Dabei ist die Hetze gegen Schwule und Lesben ein reales Problem in einem Land, in dem die orthodoxe Kirche mit ihren Ansichten noch immer das Denken prägt, vor allem in der Provinz. Dort üben homophobe Priester häufig keinen geringeren Einfluss auf Dorfjugendliche aus als Lady Gaga und Miley Cyrus. Queere Youngster finden in der Clubszene so etwas wie einen Schutzraum. 

Falls die Rave-Bewegung ihren Kampf um Georgiens Aufbruch in ein dauerhaftes Projekt verwandeln möchte, erscheint es dennoch naheliegend, ihre Agenda mit der sozialen Frage zu verknüpfen: „Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zählt laut Umfragen für die meisten Menschen seit Jahren zu den drängendsten politischen Themen“, sagt Sopho Verdzeuli. „Trotzdem sind Diskurse über soziale Sicherheit, Daseinsvorsorge und die Verantwortung des Staats in der Politik dramatisch unterrepräsentiert.“ Sollte das Reizthema auf die Straße getragen werden, würden sich womöglich erneut Zehntausende vor dem Parlamentsgebäude in Tbilisi versammeln.

Fotos: David Klammer/laif

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