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Gelbwesten

„Es geht um soziale Gerechtigkeit“

Die Wut auf die Regierung eint die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Wir haben vier Demonstranten gefragt, warum sie auf die Straße gehen

Benjamin B., 27

Mit beiden Armen hält Benjamin B. ein Pappschild über seinen Kopf. „Gendarmen, streift euch eine Gelbweste über“ steht darauf. Der 27-Jährige nimmt seit drei Wochen an den Protesten in der Hauptstadt teil. „Im Vergleich zu vielen anderen hier geht’s mir relativ gut. Aber wir müssen doch solidarisch sein“, sagt er.

Benjamin B. lebt mit seinen Eltern im Großraum von Paris. Vor kurzem hat er sein Studium der Umweltökonomie beendet. Ihn macht wütend, dass die Regierung ihre ursprünglich geplante Steuererhöhung auf Treibstoff mit dem Klimaschutz rechtfertigt. „Macron macht kaum Geld für Umweltschutz locker und schiebt dann dieses Argument vor, um die Ärmsten im Land, die auf ihr Auto angewiesen sind, noch stärker zur Kasse zu bitten.“ Er selbst sieht keinen Widerspruch zwischen dem Protest der Gelbwesten und einer verantwortungsvollen Klimapolitik. „Die Frage ist ganz einfach, wo man ansetzt. Wenn die Menschen am Ende des Monats genug zu essen haben, können sie auch daran denken, umweltfreundlicher zu leben“, sagt er.
 

Laetitia Desrozier, 44

Laetitia Desrozier kommt aus Franconville, einer Kleinstadt nördlich von Paris. Die 44-Jährige demonstriert seit Wochen mit den Gelbwesten. Eine der wichtigsten Forderungen ist für sie die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC), der derzeit bei knapp 1.500 Euro brutto liegt. Desrozier hat zwei Töchter und ist alleinerziehend. Vor zwei Monaten hat sie ihre Arbeit als Reinigungskraft verloren: „Seitdem leben wir zu dritt von 900 Euro im Monat. Ich frage mich jeden Tag, wie wir den Kopf über Wasser halten sollen.“

Was bisher über die heterogene Bewegung bekannt ist, liest du hier

Von der Regierung fühlt sich Desrozier im Stich gelassen. „Macron bittet uns, Abstriche zu machen, und beschließt zugleich Steuererleichterungen für die Reichen“, entrüstet sie sich. Die Vermögenssteuer, die Macrons Regierung Anfang des Jahres weitgehend abgeschafft hat, müsse wieder eingeführt werden, fordert Desrozier. Enttäuscht hat sie auch, dass sich Frankreichs Präsident sehr lange nicht persönlich zu den Protesten der Gelbwesten geäußert hat. „Das zeigt, dass er nur im Sinne der Reichen handelt“, meint sie. Bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 hatte Desrozier für Marine Le Pen gestimmt: „Nicht aus Überzeugung. Aber ich habe den Eindruck, sie setzt sich doch stärker für die Franzosen ein.“

Xavier Sabater, 33

Mit ernster Miene steht Xavier Sabater am Place de la Bastille. 600 Kilometer hat der 33-Jährige für seine Anreise zurückgelegt. „Um mir Gehör zu verschaffen“, sagt er. Sabater kommt aus dem Département Isère, nahe Lyon. Er ist Eisenbahner bei der Staatsbahn SNCF und eine Gelbweste der ersten Stunde. Seit dem 17. November geht er jede Woche auf die Straße. Wie viele andere demonstrierte er anfangs vor allem gegen die von der Regierung geplante Steuererhöhung für Benzin und Diesel. „Ich fahre jeden Tag eine Stunde zur Arbeit und bin auf mein Auto angewiesen“, sagt er. Schon heute koste ihn der Sprit 300 Euro pro Monat. „Wenn er noch teurer wird, kann ich mir das nicht mehr leisten.“

Dass die Regierung Anfang Dezember angekündigt hat, die Steuererhöhung für 2019 auszusetzen, geht Sabater nicht weit genug. „Die Treibstoffsteuer hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Aber eigentlich geht es ihm um viel mehr: zu hohe Lebenshaltungskosten, zu niedrige Löhne und die „Arroganz“ von Emmanuel Macron und seiner Regierung, die keine Ahnung hätten von seiner Realität: „Die sollen mal versuchen, einen Monat lang mit dem Mindestlohn zu leben.“
 

Jean-Charles Blaison, 57

„Zu Beginn konnte ich mit den Gelbwesten wenig anfangen“, sagt Jean-Charles Blaison. Der 57-jährige Ingenieur nahm am 8. Dezember zum ersten Mal am Protest der Bewegung teil. Blaison lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Paris. Das Auto gehört für ihn nicht zum Alltag. „Mit einem Protest gegen höhere Steuern auf Treibstoff konnte ich mich daher nicht identifizieren“, sagt er. Doch mittlerweile hat der Pariser seine Meinung geändert: „Die Forderungen der Bewegung sind breiter geworden. Es geht um soziale Gerechtigkeit und eine faire Verteilung der Steuerlast – Themen, die mir wichtig sind.“

Auch politisch müsse sich für Blaison einiges ändern. „Die Fünfte Republik ist nicht mehr zeitgemäß. Unser System gibt dem Präsidenten viel zu viel Macht.“ Für Blaison ist es absurd, dass Emmanuel Macron, der im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl 2017 gerade mal 24 Prozent der Stimmen bekam, heute „wie ein Monarch“ herrsche. „Die Franzosen können kaum mitreden, und ihre Wut darüber entlädt sich nun auf der Straße.“

Die Interviews wurden am Rande der Demonstration in Paris am 8. Dezember geführt.

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