"Irgendwann hat der Fahrer zwei von uns rausgeworfen", erzählt Faruk und wedelt die Geste mit der Hand nach,"du und du, ihr steigt aus, ihr seid jetzt in München, hat er gesagt." Dann stand Faruk auf der Straße.Wie lange er mit zehn anderen Menschen zuvor unter der Plane des Lasters im Dunkeln gesessen hatte, weiß er nicht mehr. 14 Jahre war er damals alt, sprach einen kurdischen Dialekt und ein bisschen Arabisch. Eine Schule hatte er seit Jahren nicht mehr besucht. 

Faruk ist, was Flüchtlingshelfer einen UMF nennen: ein Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling. In Deutschland leben nach Schätzung des Bundesfachverbands für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BUMF) etwa 5000 Jugendliche wie er. Sie kommen vor allem aus Afghanistan oder Westafrika und haben zwei Dinge gemeinsam: In ihrer Heimat waren sie nicht sicher. Und sie sind ohne Eltern nach Deutschland gekommen, weil die nicht in der Lage waren, sie zu schützen.

Oder weil sie nicht mehr leben. So wie bei Faruk.Er gehört zu der winzigen Minderheit der jesidischen Kurden.Seine Familie lebte im Norden des Irak, in der Nähe von Mossul. Faruks Vater zählte 2003 zu den ersten Opfern des Rachefeldzugs gegen die Anhänger Saddam Husseins. Der Funktionär der Baath-Partei wurde von Unbekannten ermordet, "wahrscheinlich waren es islamische Terroristen", vermutet Faruk. Er wird unsicher, spricht in unpersönlichen Phrasen, wenn er von dem Tod seiner Familie erzählen soll. Fast wirkt es, als wäre seine eigene Vergangenheit für ihn nur noch eine Geschichte, die man anderen Menschen erzählt. Ein halbes Jahr später starb auch Faruks Mutter, und der Junge kam bei Bekannten unter. Sein älterer Bruder war schon Jahre zuvor nach Deutschland gegangen, jetzt suchten die Männer nach dem anderen Sohn der Familie. "Du kannst hier nicht mehr bleiben",sagten ihm seine Bekannten und bezahlten einen Schleuser, der Faruk in einem Lastwagen erst nach Istanbul brachte, dann nach München.

Hier lebt er jetzt seit August 2004 und wohnt mittlerweile in einer betreuten Wohngemeinschaft der Jugendhilfe. "Nach zwei Monaten im Heim bekam ich einen Brief,in dem stand, dass ich jetzt einen Vormund habe",sagt Faruk:Isabella Deck vom Katholischen Jugendsozialwerk kümmert sich um ihn und 31 andere junge Flüchtlinge. Für Faruk stellt sie die vielen Anträge: Geld, medizinische Versorgung,einen Platz an der Volkshochschule. Sie begleitete ihn auch zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der ersten Station für Asylbewerber nach dem Aufnahmeverfahren. Dort entscheidet ein Beamter nach einer Anhörung, ob dem Antrag auf Asyl stattgegeben wird. Falls ja, bedeutet das zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Gegen einen negativen Bescheid kann der Flüchtling beim Verwaltungsgericht klagen. Wird die Klage abgewiesen,wird im Normalfall eine Duldung erteilt: Der Flüchtling ist ausreisepflichtig,er kann grundsätzlich immer abgeschoben werden.

Faruk wird in Deutschland geduldet. Das bedeutet, dass er sein Aufenthaltsrecht alle zwei Monate bei der Ausländerbehörde neu beantragen muss.Außerdem darf er Bayern ohne Genehmigung nicht verlassen. Trotz dieser Einschränkungen beklagt er sich kaum."Nur manchmal finde ich es unfair. Ich sehe meine deutschen Freunde, sie dürfen hinfahren, wo sie wollen, arbeiten, zur Schule gehen,alles kein Problem.Ich bin doch auch ein Mensch." Doch eigentlich, sagt er, sei er sehr zufrieden mit seinem Leben. Er hat hier seinen großen Bruder, der sich um ihn kümmert und ihm schicke Klamotten kauft. Und er hat Freunde: "Viele Deutsche, vor allem aus dem Fußballverein." Von den anderen Irakern hält er sich lieber fern, "mit denen gibt es zu viel Ärger.Aber ich kenne Türken, Italiener,Albaner: Es ist toll, wie viele unterschiedliche Menschen hier leben." 

Tagsüber lernt er an der Volkshochschule für den qualifizierten Hauptschulabschluss,dann spielt er in der Abwehr eines Münchner Fußballvereins oder geht in seinen Hip-Hop-Tanzkurs. "Ich will jetzt meinen Abschluss schaffen und dann eine Ausbildung anfangen",sagt er.Doch die Hürden sind für ihn noch höher als für einen gewöhnlichen Lehrstellenbewerber: Ausländer mit Duldungsstatus, die nach dem 1. Januar 2000 nach Deutschland gekommen sind, müssen erst eine Arbeitserlaubnis beantragen.Selbst wenn sie bereits ein Jobangebot haben, dürfen sie es nur annehmen, wenn es weder einen Deutschen noch einen Bürger eines anderen EU-Mitgliedsstaates für die Stelle gibt. "Nachrangigkeitsregelung" heißt das. Trotzdem stehen Faruks Chancen nicht schlecht – einerseits. Immerhin hatte ihm letztes Jahr ein Fahrradmechaniker schon einen Ausbildungsplatz angeboten. 

Faruk hatte sich Mühe gegeben:"Während meines Praktikums kam ich in der Früh immer schon 20 Minuten vor meinem Chef in die Arbeit. Ich dachte mir, wenn er sieht, dass ich fleißig bin, kann ich vielleicht eine Ausbildung machen." Andererseits haben die deutschen Innenminister vor Kurzem beschlossen, die ersten Abschiebungen in den Norden des Irak – Faruks Herkunftsregion – einzuleiten. Natürlich kann es noch dauern, bis Faruk dran ist. Das hängt davon ab, "wie zufrieden die Ausländerbehörde mit ihm ist",wie Uta Rieger von der BUMF betont. Faruk kann nur versuchen, immer einen möglichst guten Eindruck zu machen – über sein Schicksal entscheiden aber letztlich andere. Ein geduldeter Ausländer hat bessere Chancen, hier bleiben zu können, wenn er arbeitet.Das möchte Faruk um jeden Preis. Fragt man ihn, wie er sich seine Zukunft im Irak vorstellt, sagt er laut: "Ich gehe nicht zurück in den Irak." Er schätzt sehr, was für ihn das Beste an Deutschland ist:"Hier gibt es ein Gesetz! Ich kann tanzen,Fußball spielen,lernen, Mädchen treffen. Ich bin frei."