Morgens um acht klappt Wu Heng seinen Laptop auf, abends um elf klappt er ihn zu. „Dazwischen bin ich auf Weibo“, sagt der 28-Jährige. Er sitzt in seiner kleinen Einzimmerwohnung im Norden Shanghais, er redet viel und schnell, seine Augen kleben am Bildschirm, auf dem es ununterbrochen blinkt und piept. Vor ein paar Wochen wurde öffentlich, dass die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken in China antibiotikaverseuchte Chicken-Wings verkauft, seitdem geht die Erregungskurve auf Hengs Profil wieder steil nach oben.

Heng dokumentiert Lebensmittelskandale im Internet. Seine Webseite „Wirf es aus dem Fenster“ gründete er vor zweieinhalb Jahren, als er noch an der Uni Geschichte studierte. Mit ein paar Kommilitonen wertete er damals 17.000 Zeitungs- und Internetartikel aus und fasste die ekligsten Funde auf einer Online-Landkarte zusammen: Fleisch, das nachts leuchtet, weil es vollgepumpt ist mit Fluoriden. Explodierende Wassermelonen, versetzt mit Wachstumshormonen. „Gulli-Öl“, das aus Abflüssen gefischt und zum Kochen wiederverwendet wird. „Wir klären die Leute auf, weil die Regierung es nicht tut“, sagt Heng. Anfangs wollte sich keiner dafür interessieren, dann meldete er sich auf Sina Weibo an. Seitdem reißt die Flut an Kommentaren nicht mehr ab.

Wu Heng gehört einer chinesischen Generation an, die im Internet zum ersten Mal Zivilcourage und Meinungsfreiheit entdeckt. Er ist kein Dissident, wie man sich ihn in Europa vorstellt, er schreibt keine politischen Manifeste, fordert nicht offen den Umsturz der Kommunistischen Partei Chinas. Aber er ist ein kritischer Kopf, der das, was in seinem Land falsch läuft, nicht mehr schweigend hinnehmen will. Einer von mittlerweile sehr vielen. Sie heißen „Post-80er“, die Generation der Chinesen, die nach 1980 geboren sind, nach Maos Tod und nach der Kulturrevolution. Sie sind im Wirtschaftsboom aufgewachsen, die Häuser wurden immer höher, die Autos immer größer. Politische Gehirnwäsche prägte die Schulzeit der Post-80er genauso wie westliche Popkultur. Bis vor Kurzem galten sie als verwöhnt und unpolitisch.

„Weibo hat uns aufgerüttelt“, sagt Jiang Fangzhou. Die 24-Jährige, lange schwarze Haare, dicke Kastenbrille, ist Autorin von mehreren erfolgreichen Büchern und hat auf Weibo fast sechseinhalb Millionen Follower. Auch sie sei eine von denen gewesen, die sich kaum für Politik und Gesellschaftsprobleme interessierten. „Das war weit weg, und was in den Zeitungen stand, war sowieso gelogen.“ Dann ging im Herbst 2009 Sina Weibo an den Start. Twitter war zu der Zeit in China bereits gesperrt, genauso wie Facebook und YouTube. Der einheimische Internetkonzern Sina, der bis dahin hauptsächlich Nachrichtenportale betrieb, witterte eine Nische und brachte einen eigenen Social-Messaging-Dienst auf den Markt. Schon bald war Weibo mehr als nur eine Twitter-Kopie: Informationen, die bislang im autoritär regierten China vertuscht und zensiert wurden, kamen mit einem Mal ans Tageslicht und verbreiteten sich im Netz in Sekundenschnelle.

Eine Reihe von Korruptionsfällen erschütterte das Land. Da war der Sohn eines Parteibonzen, der zwei Mädchen überfuhr, von denen eines starb, und in dem Glauben, niemand könne ihm etwas anhaben, Zeugen drohte: „Mein Vater ist Li Gang!“. Da war das schwere Zugunglück, bei dem 40 Menschen ums Leben kamen und die Behörden versuchten, die Unfallursache und ihr eigenes Versagen zu vertuschen. Jeder dieser Vorfälle wurde erst durch Weibo zum Skandal: Als der Zug verunglückte, ermittelten Hunderte Weibo-User am Unfallort und stellten Beweisfotos ins Netz. Als im vergangenen Jahr der Fall eines gefeierten Provinzpolitikers die Kommunistische Partei in eine Machtkrise stürzte, wurden alle Details erst auf Weibo bekannt. Der zurzeit größte Aufreger: „Prinzlinge“, reiche Kaderkinder, die Dutzende Häuser im ganzen Land besitzen, während normale junge Chinesen von eigenen Wohnungen nur träumen können.

Explodierende Melonen, Fleisch, das nachts leuchtet, Gulli-Öl: Viele Lebensmittelskandale werden plötzlich aufgedeckt

„Weibo ist eine Revolution in unserer Gesellschaft“, sagt Online-Aktivist Wu Heng. Für eine Generation, die in der Schule immer nur auswendig lernte, statt zu diskutieren, ist Weibo zu einer Art Übungsplatz für Debattenkultur geworden. „Wir lernen, zu differenzieren und Argumente zu schärfen“, sagt Buchautorin Fangzhou. Auch wenn die meisten das bislang vor allem online tun: Auf dem Campus und in Cafés hört man laute Wortgefechte über Politik nach wie vor selten. „Viele trauen sich nicht, im Alltag über heikle Themen zu diskutieren, da ist das Gespräch schnell beendet. Im Internet trifft man einfacher auf Gleichgesinnte, hier sprechen viele freier“, sagt Fangzhou.

Für die 300 Millionen Chinesen, die mittlerweile als User registriert sind, ist Weibo relevanter als Twitter es jemals in einem anderen Land war: Gemessen an den Seitenaufrufen wird Weibo bis zu 15-mal so oft von seinen Nutzern besucht wie Twitter in den Vergleichsländern. 70 Prozent der Weibo-User geben an, dass Weibo ihre primäre Nachrichtenquelle ist, dasselbe gilt beispielsweise für nur 9 Prozent der amerikanischen Social-Network-Gemeinschaft. Vieles, was in den traditionellen Staatsmedien in China nicht berichtet werden darf, wird auf Weibo inzwischen offen diskutiert. Junge Chinesen arbeiten online dunkle Kapitel der chinesischen Geschichte auf, die Hungersnot unter Mao etwa und die Kulturrevolution. Die Propagandamärchen glaubt heute keiner mehr.

Stattdessen hat die Weibo-Sphäre neue Helden hervorgebracht: zum Beispiel Yao Chen, eine früher nur mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin, die heute „Chinas Zivilbürgerin Nr. 1“ genannt wird, da sie die Erste aus dem Showbusiness ist, die online kontroverse Themen wie Zwangsenteignung und Machtmissbrauch anspricht. Mehr als 38 Millionen User folgen ihr auf Weibo, das ist Weltrekord: Justin Bieber und Lady Gaga haben jeweils „nur“ gut 34 Millionen Fans auf Twitter. Oder der Umweltaktivist Ma Jun, der seine Follower dazu auffordert, ihm Namen und Fotos von Unternehmen zu schicken, die die Umwelt verpesten. Oder Zhang Haite, eine 15-jährige Wanderarbeitertochter, die ihr Abitur nicht an einer Großstadtschule machen darf und eine Weibo-Kampagne für ihr Recht auf Bildung startete.

Oder der 21-jährige Aktivist Zi Le, der noch als Oberstufenschüler die erste schwullesbische Weibo-Community gründete und seitdem homosexuelle Jugendliche aus dem ganzen Land berät und online gegen Vorurteile ankämpft. Heute sagt er: „Die chinesische Gesellschaft ist toleranter geworden.“ Die neue Freiheit hat natürlich ihre Grenzen. Kein Land der Welt hat eine ausgefeiltere Internetzensur als China. Geschätzte 20.000 Internetpolizisten tun den ganzen Tag nichts anderes, als das Netz von vermeintlich gefährlichen Inhalten zu säubern. Hinzu kommen unzählige „50 Cents“, so werden vom Staat bezahlte Online-Jubler genannt, die für jeden Propaganda-Eintrag angeblich 50 chinesische Cent, umgerechnet 6 Eurocent, bekommen.

Manche Themen sind auf Weibo ganz tabu: das Massaker vom Tiananmen-Platz, Tibet und Taiwan

Einige Themen bleiben auf Weibo tabu: Die „drei T“ – Tiananmen (auf dem Pekinger Platz fanden 1989 Studentenproteste statt, die in einem Massaker an Demonstranten endeten), Tibet und Taiwan – sowie Kritik an jetzigen Führungspolitikern. Mitarbeiter des chinesischen Informationsministeriums haben direkten Zugriff auf die Server des Internetkonzerns Sina und können jederzeit eingreifen. Das ist aber meistens gar nicht mal nötig: „Die Drecksarbeit muss Sina selbst machen“, sagt der Pekinger Blogger und Netzexperte Michael Anti. Das Unternehmen filtert über automatisierte Stichwortsuche Begriffe wie „Dalai-Lama“ oder „Demonstration“ aus, zudem beschäftigt Sina schätzungsweise 2.000 hausinterne Zensoren; sie durchforsten Beiträge auch per Hand. Zensur ist nicht gleich Zensur: Manchmal werden nur einzelne Posts gelöscht, manchmal werden User mundtot gemacht, indem ihre Accounts vorübergehend stillgelegt werden. Berühmte Staatsfeinde wie der Künstler Ai Weiwei sind auf unbegrenzte Zeit gesperrt. Andere Prominente werden persönlich von den Sina-Zensoren betreut, so auch die Autorin Jiang Fangzhou. Als die Regierung 2011 eine chinesische „Jasminrevolution“ fürchtete, rief sie jemand aus der Sina-Zentrale an. Sie solle aufpassen, was sie sage, gleichzeitig entschuldigte sich der Anrufer: „Wir können auch nichts dafür.“ Der Internetkonzern muss bei der Zensur mitspielen, das ist die Bedingung dafür, dass Weibo überhaupt existieren darf.

Dennoch, meistens gewinnen bislang die User das Katz-und-Maus-Spiel. Sie haben clevere Wege gefunden, die Zensur auszutricksen: Für den 4. Juni, das Datum des Tiananmen-Massakers 1989, verwenden sie den Code „35. Mai“. Statt „Ai Weiwei“ schreiben sie „Ai Weilai“ (Liebe deine Zukunft), wenn der Künstler gemeint ist, das klingt so ähnlich. Und wenn ein bestimmter Text verboten ist, posten sie ihn als Bilddatei. Die Internetpolizei kommt gar nicht hinterher mit dem Löschen.

Bei Sina sabotiert sich die Zensurabteilung sogar selbst. Vor einigen Wochen kritisierte Wu Heng auf Weibo, dass Behörden einem Reporter einer renommierten Zeitung einen Maulkorb verpasst hatten. Der Eintrag landete an diesem Tag unter den Top Ten der meistgelesenen Posts, 20.000-mal wurde er weitergeleitet. Dann entfernten ihn die Zensoren. Zwei Tage später fand Heng seine Worte wieder: Ein Sina-Mitarbeiter hatte den gelöschten Eintrag in seinem persönlichen Profil wiederveröffentlicht.