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„Krisen sind weiterhin sehr wahrscheinlich“

Die Politik hat seit 2008 einiges unternommen, um Finanzkrisen vorzubeugen. Nicht genug, sagt die Ökonomin Heike Joebges – und befürchtet neue Crashs

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fluter.de: Kaum jemand versteht richtig, wie Finanzmärkte funktionieren. Sehen Sie ein Problem darin, dass Wirtschaft scheinbar nur von Experten erklärt und entschieden werden kann?

Heike Joebges: Das ist nicht nur ein Problem in der Wirtschaft. Viele Bereiche unserer Welt werden immer komplexer. Ich würde mir natürlich wünschen, dass alle schon in den Schulen ein besseres Grundwissen über wirtschaftliche Zusammenhänge bekommen. Einfach weil wir in einer Welt leben, in der wirtschaftliche Entscheidungen immer relevanter werden und gute Wirtschaftspolitik auch für unsere Demokratie wichtig ist.

Dann versuchen wir mal, uns in dieser Welt besser zurechtzufinden: Können Sie in wenigen Sätzen erklären, was da am 15. September 2008 passiert ist, als die große Investmentbank Lehman Brothers pleiteging?

Dass die Pleite so einen weltweiten Schock ausgelöst hat, liegt daran, dass alle erwartet hatten, dass die US-Regierung alle relevanten Finanzinstitutionen irgendwie retten würde. Als Lehman Brothers nicht gerettet wurde, war der Schreck groß. Forderungen gegenüber Lehman Brothers waren von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert. Damit stieg die Sorge, dass dasselbe mit anderen Finanzinstituten passieren könnte. Zudem hatten weltweit viele andere Banken mit Lehman Brothers Vereinbarungen getroffen, dass Lehman Brothers zahlt, wenn bei ihnen Kredite ausfallen. Viele hatten sich darauf verlassen, aber plötzlich existierte dieser ganz wichtige Vertragspartner nicht mehr, sodass die anderen Banken nicht mehr wussten: Bin ich jetzt vielleicht schon selber pleite, ohne es zu wissen?

 „Ob das reicht? Ich würde sagen: nein“

Ist in den zehn Jahren seither genug passiert, um weitere große Finanz- und Eurokrisen zu verhindern?

Weltweit hat man sich auf eine bessere Bankenregulierung geeinigt, sodass Banken nicht mehr so leicht hochriskante Geschäfte mit eigens dafür im Ausland gegründeten Gesellschaften tätigen können. Die EU hat außerdem eine Bankenunion beschlossen. Die soll Bank Runs verhindern, schnelle Abwicklungen und Stabilisierungen ermöglichen, wenn es Bankenprobleme gibt, und durch eine einheitliche Bankenaufsicht dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Das geht in die richtige Richtung, weil es die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß von ähnlichen Krisen verhindert. Aber ob das reicht? Ich würde sagen: nein.
 

 

Wo müsste man denn ansetzen, um wirklich etwas zu verändern?

Das Problem ist: Wir leben in einer Zeit mit neuen und immer komplexeren Finanzprodukten. Da insbesondere seit den 1990er-Jahren weltweit Kapitalverkehrsfreiheit besteht, können Sie jederzeit Aktien, Anleihen und Devisen anderer Länder kaufen und verkaufen und auch Bankkonten im Ausland nutzen. Aufgrund moderner Computer dauern Kauf und Verkauf nur noch Millisekunden. Gleichzeitig leben wir in einer Welt, die durch sehr hohe Vermögensungleichheiten gekennzeichnet ist, sodass es sehr viele sehr vermögende Personen und Institutionen gibt, die Anlagemöglichkeiten suchen.

 „Wir brauchen einen Mechanismus, der wirtschaftliche Auseinanderentwicklung verhindert“

Aufgrund fehlender Beschränkungen und geringer Kosten für solche Geschäfte haben wir unglaublich hohe Kapitalbewegungen, jeden Tag ein Vielfaches der jährlichen Weltproduktion, die sehr schnell auf kleinste Zinsänderungen reagieren. Das passiert auch im großen Stil durch Computerprogramme. Das Herdenverhalten bei Investoren führt dann dazu, dass sehr schnell sehr große Massen Geld in bestimmte Länder gesteckt werden. Gerade in kleinen Ländern können die Finanzmärkte das gar nicht verdauen, und das führt leicht zu Preisblasen.

Würde da nicht eine Finanztransaktionssteuer, also eine Steuer auf internationale Finanzgeschäfte, helfen?

Das finde ich eine gute Möglichkeit. Es gibt da ganz verschiedene Ausgestaltungen, aber grundsätzlich finde ich Maßnahmen, die versuchen, die kurzfristigen, spekulativen Kapitalflüsse zu verringern, sehr sinnvoll. Aber das ist leider sehr unrealistisch.

Wieso?

Momentan ist die vorherrschende Meinung immer noch, dass Märkte es zumindest besser richten als staatliche Eingriffe. Insofern halte ich es leider für nicht sehr wahrscheinlich.

Im Euroraum gelten heute strengere Regeln, um eine Überschuldung von Staaten zu verhindern. Reicht das?

Meiner Ansicht nach überhaupt nicht. Überschuldung des Staates war nur in Griechenland das Hauptproblem, aber für Spanien, Irland und in geringerem Maße auch für Italien und Portugal war die Verschuldung privater Haushalte und Unternehmen das Hauptproblem. Dass die Verschuldung so stark gestiegen ist, lag daran, dass es Rahmenbedingungen gab, unter denen es sehr attraktiv war, Kredite aufzunehmen, sich zu verschulden, zu investieren und Güter aus dem Ausland zu kaufen – auch wegen der guten Wachstumsaussichten. 
 

 

Vor der Krise gab es eine Phase, in der die EZB einen höheren Leitzins festgelegt hatte. Für Deutschland, „den kranken Mann Europas“, war das damals schlecht, weil die Wirtschaft kaum wuchs oder sogar schrumpfte. Für die wirtschaftlich stärker wachsenden Regionen im Euroraum war der Zinssatz damals sogar eher zu gering. 

Stimmt, denn der Zinssatz muss zum Wirtschaftswachstum passen. Entwickeln sich die Länder unterschiedlich – stehen also boomenden Ländern solche mit schleppender Wirtschaftsentwicklung gegenüber –, kann der Zinssatz der EZB nicht für alle Euroländer passen. Wir brauchen daher einen Mechanismus, der wirtschaftliche Auseinanderentwicklung verhindert. Das haben wir bisher nicht. Insofern glaube ich, dass Eurokrisen weiterhin sehr wahrscheinlich sind.

Wie lässt sich das ändern?

Es ist ganz viel diskutiert worden, und ein europäischer Finanzminister steht auch durchaus weiterhin zur Debatte – der alleine würde aber auch nicht reichen. Es wäre sinnvoll, wenn man die Wirtschaftspolitik der Länder stärker koordinieren würde. Das würde nicht nur eine bessere Abstimmung staatlicher Ausgaben für Investitionen, Gehälter und Löhne von Staatsbediensteten und soziale Transfers an Arbeitslose und Familien umfassen, sondern auch eine einheitliche Besteuerung von Einkommen. Aber da möchte sich ja auch Deutschland nicht hineinreden lassen.

 „Wir wissen erst mit Sicherheit, dass es eine Blase gab, wenn sie platzt“

Ist die Sorge vor mehr europäischer Kooperation nicht verständlich, weil dann auch Risiken gemeinsam getragen werden? 

Ja, obwohl ich finde, dass man für eine gemeinsame Währung auch bereit sein muss, zusammen die Risiken zu tragen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man Griechenland nicht stärker unterstützt hat. Wir können kein Interesse daran haben, dass eines unserer Nachbarländer wirtschaftlich so schwer getroffen wird, dass ein Verfall der Gesellschaft und eine Destabilisierung der Demokratie drohen. Zudem sind wir die Exportnation und wollen daher, dass diese Länder weiterhin unsere Produkte kaufen können. Ich finde, gemeinsame Risikoübernahme gehört dazu. Wenn man das gut gestaltet, heißt das auch nicht, dass wir dann immer die sind, die zahlen. In der Phase vor der Finanzkrise ist unsere Wirtschaft kaum gewachsen, da hätten wir von solchen Transfers profitiert. Jetzt stehen wir vermeintlich gut da, aber langfristig brauchen wir Maßnahmen, die das Wachstum in allen Mitgliedsländern stabilisieren.

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Heike Joebges (Foto: HTW Berlin/Friederike Coenen)

Heike Joebges ist Professorin für International Economics an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin

(Foto: HTW Berlin/Friederike Coenen)

In deutschen Großstädten steigen die Mieten und die Immobilienpreise sehr stark. Kann das ein Hinweis darauf sein, dass wir schon auf die nächste Blase zusteuern?

Ökonomen haben immer ein Problem, gute Gründe für steigende Preise von einer Blase zu unterscheiden: Wir wissen erst mit Sicherheit, dass es eine Blase gab, wenn sie platzt. Weltweit interessieren sich Investoren für den Berliner Wohnungsmarkt – gemessen an ihrer Zahlungsbereitschaft haben wir keine Blase. Aber das heißt natürlich auch, dass, wenn die Investoren plötzlich lieber woanders investieren, sie wahrscheinlich ihr Geld abziehen werden. Aber selbst wenn die Preise am Wohnungsmarkt dann stark sinken, müssten wir keine große Krise fürchten. Der Verschuldungsgrad in Deutschland ist nicht so hoch, wie er in den USA war. Hier werden nicht so leichtfertig Kredite vergeben.

Wo sind Krisen in Zukunft eher zu erwarten?

In dem Moment, wo in den Industrieländern wieder die Zinsen steigen, wird das Kapital aus Ländern, die vorher attraktiv schienen, schnell und unerwartet abgezogen. Das führt dann zu großen Problemen in den Ländern, wie die aktuelle Berichterstattung über Argentinien und die Türkei zeigt. Krisen sind momentan eher in den Schwellenländern sehr wahrscheinlich.

Du willst es genauer wissen? Hier geht’s zum FAQ „Crashkurs Finanzkrise“

Fotos: TendanceFloue / Agentur Focus

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