EU Flagge mit blinkendem Stern

Und tschüss?

In EU-Ländern wie Ungarn ist der Rechtsstaat in Gefahr – das verstößt gegen die Regeln des Bündnisses. Was kann die EU tun? Dürfte sie Mitgliedstaaten sogar rauswerfen?

Von Steven Meyer
Thema: Demokratie
21. Mai 2025

Es gibt einige Grundwerte, die ein Mitgliedstaat laut dem Vertrag über die EU sicherstellen muss. Was passiert, wenn er dies nicht tut? 

Laut Artikel 2 müssen EU-Mitgliedstaaten die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte garantieren. Die EU kann theoretisch Sanktionen gegen ein Mitglied verhängen, wenn diese Grundsätze verletzt werden. 

Und wie geht das?

Durch die Suspensionsklausel (Artikel 7 des EU-Vertrags), die in Brüssel auch als „Atombombe“ bezeichnet wird. Sie ist bei Verstößen gegen die Grundwerte das stärkste politische Instrument der EU. Die Klausel wurde im Jahr 2000 entwickelt, als die rechtspopulistische Partei FPÖ in Österreich an die Macht kam, und sieht einen Sanktionsmechanismus vor, wenn es zu „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen“ von EU-Werten kommt. Dann können zum Beispiel Stimmrechte ausgesetzt werden. Die Sache hat allerdings einen Haken: Zunächst muss der Europäische Rat, dessen Mitglieder die Staats- und Regierungschefs aller EU-Länder sind, das Vorliegen der Verletzung feststellen – und zwar einstimmig. Die Hürden zur Aktivierung sind also ziemlich hoch.

Welcher Rat nochmal? 

Der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union sind zwei unterschiedliche Organe der EU.

Der Europäische Rat ist das Gremium der Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten. Er gibt die politische Richtung der EU vor, erlässt jedoch keine Gesetze. 

Der Rat der Europäischen Union hingegen besteht aus den Fachministern der Mitgliedstaaten. Er verhandelt und beschließt Gesetze gemeinsam mit dem Europäischen Parlament.

Wurde ein Land schon einmal über diese Klausel sanktioniert?

Nein, bisherige Versuche, den Mechanismus zu aktivieren, scheiterten immer an diesem Einstimmigkeitsprinzip. Bei Polen und Ungarn wurde Artikel 7 zwar genutzt, um eine Gefährdung der EU-Werte festzustellen – beide Länder höhlen seit Jahren die Gewaltenteilung ihrer Länder aus und versuchen, Presse und Justiz zu kontrollieren. Sie schützten sich jedoch gegenseitig. Außerdem sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Verfahrens zurückhaltend. Deshalb ist es in der politischen Praxis beinahe wirkungslos.

Kann die EU ein Land nicht einfach rauswerfen?

Nein, das war so nie vorgesehen. Die ursprünglichen EU-Verträge sahen weder einen Ausschluss noch einen Austritt vor. Mittlerweile gibt es allerdings eine Austrittsklausel im Vertrag von Lissabon. Dieser kann aber nur auf freiwilliger Basis erfolgen – wie beim Brexit. 

Was kann man sonst noch tun?

Durch den sogenannten Konditionalitätsmechanismus von 2020 können EU-Mittel nun gekürzt oder eingefroren werden, wenn ein Mitgliedstaat gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. Polen und Ungarn hatten eine Klage gegen den neuen Mechanismus eingereicht – der Europäische Gerichtshof wies diese jedoch ab. Um ihn auszulösen, muss die EU-Kommission eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit feststellen, das Verfahren einleiten und dem Rat der Europäischen Union ein Maßnahmenpaket vorschlagen. Dieser kann dann das Paket mit mindestens 55 Prozent der Stimmen beschließen.

Kam es bereits zur Anwendung dieser neuen Verordnung?

Ja, in den letzten Jahren fror die Kommission EU-Hilfen in Milliardenhöhe an Polen und Ungarn ein. Durch die neue Regierung in Polen und ihre Bestrebungen, die Rechtsstaatlichkeit im Land wieder herzustellen, wurden zurückgehaltene Gelder wieder freigegeben. Da sich Ungarns Regierungschef Viktor Orbán aber weiterhin weigert, Rechtsstaatsreformen umzusetzen, verliert das Land Anspruch auf EU-Mittel.

Bewirken diese Maßnahmen etwas?

Das lässt sich nicht so eindeutig sagen. Fest steht allerdings, dass das proeuropäische Wahlbündnis „Bürgerkoalition“ im polnischen Wahlkampf 2023 für eine Verbesserung der Beziehungen zur EU und für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit warb. Der Spitzenkandidat und jetzige Ministerpräsident Donald Tusk versprach sogar, Zugriff auf die eingefrorenen EU-Milliarden zu erhalten. Womöglich hat das den Wähler:innen gefallen: Die Partei PiS, die von 2015 bis 2023 regierte und Polens Rechtsstaat abbaute, blieb zwar stärkste Kraft, verlor aber einen bedeutenden Teil ihrer Stimmen und ist mittlerweile in der Opposition.

Neben Verstößen gegen die Grundwerte der EU gibt es auch Verstöße gegen EU-Recht, also gegen Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse. Dass EU-Staaten gegen Letzteres verstoßen, kommt ziemlich oft vor. Deutschland zum Beispiel hat die Richtlinien zum Artenschutz nicht eingehalten. Was passiert dann eigentlich?

Wenn ein Land gegen EU-Recht verstößt, kann die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das dann zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof führen kann. Stellt das Gericht einen Verstoß fest und der Mitgliedstaat setzt das Urteil nicht um, kann die Kommission erneut klagen und finanzielle Sanktionen fordern. 

Wie häufig kommt es zu solchen Verfahren?

Die Kommission stößt jährlich Hunderte Verfahren an, um sicherzustellen, dass EU-Recht von den Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Kritiker:innen sagen, sie gehe dabei selektiv vor und verfolge nicht alle Verletzungen konsequent, zum Beispiel an den EU-Außengrenzen. In 90 Prozent der Fälle wird keine Klage erhoben, denn meistens kommen Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nach. Falls doch, kann es passieren, dass sich Länder weigern, die Urteile anzuerkennen.

Und was passiert dann?

Wenn sich ein Land dauerhaft weigert, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen, kann die Kommission ein zweites Vertragsverletzungsverfahren einleiten, diesmal speziell wegen Nichtbefolgung des Urteils. Dann kann es dazu kommen, dass Geldstrafen in Form eines Pauschalbetrags oder täglichen Zwangsgeldes verhängt werden. 2021 ordnete der Gerichtshof eine Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag gegen Polen an, weil das Land die Unabhängigkeit seiner Justiz eingeschränkt hatte.

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