Herr Litvin, um Öl, Kohle, Gas oder Uran kümmert sich in Deutschland oder Frankreich mehr der Außen- als der Energieminister. Wie kommt das? 

Diese Entwicklung hat vor allem mit den immer höher steigenden Ölpreisen zu tun. Ein Barrel Öl kostet heute um die 70 Dollar, vor wenigen Jahren waren es noch nicht mal 30 Dollar. Diese hohen Preise bedeuten,dass die wirtschaftliche Auswirkung von Energiefragen auf Importländer beträchtlich ist, so dass sich tatsächlich nicht mehr Verwaltungsbeamte des Energieministeriums damit beschäftigen, sondern der Außenminister, der Ministerpräsident oder gar der Präsident. 

Was bedeutet das für die deutsche oder die britische Außenpolitik? 

Es geht um die Sicherung der Energieversorgung. Niemand kann mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass die Versorgung mit Öl oder Gas auch in zehn Jahren noch garantiert ist. Das erfordert eine grundlegende politische Debatte. 

Was gibt es zu besprechen? 

Die Diskussion um sichere Energieversorgung ist nicht theoretisch oder akademisch, sie betrifft unseren Alltag. Es geht darum, ob wir fernsehen, heizen und mit dem Auto zum Einkaufen fahren können. 

Wie können wir sicherstellen dass das auch in zehn Jahren noch geht? 

Einige sagen, die Energieversorgung könnte besser sichergestellt werden, indem man neue Kernkraftwerke baut. Andere wollen verstärkt in erneuerbare Energien investieren. Wieder andere sagen, dass nichts davon das Problem wirklich lösen werde und der Westen größtmögliche Anstrengungen unternehmen müsse, um politische Stabilität und kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum in den sich entwickelnden Energie-Exportländern sicherzustellen. Einfach gesagt: Lateinamerika und der Nahe Osten sollten stabile, wohlhabende Demokratien sein, die wachsen und gedeihen, dann hätten wir das Problem gelöst. 

Und? Wer hat Recht? 

Es muss eine Kombination sein. Im Augenblick scheint es mir nicht so zu sein, dass erneuerbare Energien allein dieses Problem lösen werden – sie sind noch längst nicht so effizient nutzbar wie Öl, Gas oder Kohle.Am meisten vernachlässigt wurde bisher die Frage, wie man in den Energie exportierenden Ländern für stabile Verhältnisse sorgen kann. Der Westen hat die Ressourcen dieser Länder über viele Jahrzehnte hinweg ausgebeutet, ohne ausreichend darauf zu achten, dass die ausgenutzten Länder davon zumindest zufriedenstellend wirtschaftlich profitierten. 

Für das Ausnutzen wurde der Begriff des „Energie-Imperialismus“ geprägt. Ist das nicht etwas übertrieben? 

In Afrika, wo das Gedränge um Ressourcen gerade am heftigsten ist, hat das durchaus Ähnlichkeiten mit dem „Wettlauf um Afrika“ in der Zeit des Imperialismus. Damals versuchten Großbritannien, Deutschland, Portugal und Frankreich, sich ihr Territorium in Afrika abzustecken – mit oft sehr unangenehmen Konsequenzen für die afrikanische Bevölkerung. 

Im Imperialismus ging es aber auch darum,die Länder zu Kolonien zu machen. 

Es gibt natürlich auch große Unterschiede zwischen damals und heute. Heute geht es um indirekte politische Einflussnahme, das hat große Auswirkungen auf die Volkswirtschaften dieser afrikanischen Länder. Einerseits ist es natürlich großartig für viele dieser Länder, dass so viel Geld dort investiert wird – es hängt aber davon ab, wer wirklich von diesen Investitionen profitiert. Es ist ja kein Geheimnis, dass zum Beispiel rund um Ölprojekte die Korruption blüht. 

Momentan scheinen fast nur die Regierungen und Eliten zu profitieren. 

Würde man verallgemeinern wollen, wäre das wohl sehr nahe an der Wahrheit. 

Also doch ein neuer Imperialismus, diesmal mit den Eliten als Marionetten? 

Für die Menschen in den betroffenen Ländern muss es so aussehen. In Venezuela oder Bolivien werden Ölfirmen genau deshalb verstaatlicht – weil die bestehenden Vereinbarungen diese Länder zu sehr an Imperialismus erinnern. Es gibt aber auch Unterschiede. So hatten die imperialistischen Mächte und die großen Investoren eigene Armeen und keinen Respekt vor den Menschenrechten.

Ölfirmen haben nach wie vor den Ruf, Profite über Menschenrechte zu stellen. 

Lassen Sie es mich so sagen: Es passieren immer noch üble Dinge, aber auf der Skala des Bösen rangieren die unter dem,was zur Zeit des Imperialismus geschah. 

Ein mächtiger neuer Konkurrent auf dem Energiemarkt ist China, das praktisch auf der ganzen Welt Verträge schließt, um an Energieressourcen zu gelangen – mit dem Iran, dem Sudan oder mit Australien. Wie sollen sich die westlichen Länder da verhalten? 

Es ist eine sehr große Herausforderung für den Westen. Für manche Länder besteht sogar die Gefahr, dass sie unter dem starken Konkurrenzdruck nicht in der Lage sein werden, sich die Energie zu sichern, die sie benötigen. 

Ist neben dem Streben nach sicherer Energieversorgung dann noch Platz für Moral in der Außenpolitik westlicher Staaten? 

Vernachlässigt man moralische Fragen, um kurzfristig an Öl zu gelangen, oder beutet man die Bevölkerung eines Landes zu Gunsten korrupter Eliten weiter aus, wird dieses Land langfristig mit großer Wahrscheinlichkeit politisch sehr instabil sein. Es könnte etwas Ähnliches passieren wie in Bolivien und Venezuela: dass eine neue Regierung kommt, die entweder die ausländischen Ölanlagen und Vermögenswerte verstaatlicht oder zumindest hohe Steuern erheben wird, um ausländischen Firmen die Geschäfte zu erschweren. Kümmert man sich um moralische Fragen und stabile Verhältnisse durch gerechte Verteilung der Einnahmen in den exportierenden Ländern, so schafft man langfristig ein sichereres Umfeld für die eigenen Investitionen. 

Und kurzfristig? 

Durch den Wettbewerb mit den Chinesen und anderen asiatischen Staaten ist alles viel komplizierter geworden. Westliche Ölfirmen sind in Fragen der moralischen Standards und nachhaltiger Hilfe für die Exportländer einem viel größeren öffentlichen Druck ausgesetzt. Daher kann es sein, dass sie kurzfristig einen Wettbewerbsnachteil haben. Wer sich weniger mit moralischen Fragen aufhält, hat weniger Probleme, einen Vertrag mit einer Regierung zu schließen,die sich nicht so sehr um Menschenrechte kümmert. 

Gibt es dafür Beispiele? 

Der Sudan. Dort haben sich einige westliche Investoren zurückgezogen, die dann sofort durch chinesische Interessenten ersetzt wurden. 

Wenn es um Energie geht, sind die Zeiten also schlecht für Anstand, Moral und Menschenrechte. 

Auf jeden Fall bedeutet verstärkter Wettbewerb um Energieressourcen, dass Fragen der Menschenrechte und der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Agenda nach unten rutschen. 

Ist daran nur die Konkurrenz durch China schuld? 

China trägt eine Teilschuld, aber der Westen sollte schon selbstkritisch genug sein, um den eigenen Anteil zu erkennen. Regime und Länder des Nahen Ostens waren und sind für die wirtschaftliche Stabilität und sichere Energieversorgung des Westens von großer Bedeutung. Der Westen hat ein Auge zugedrückt, wenn es um mangelnde Respektierung der Menschenrechte und mangelnde Demokratiebereitschaft ging. 

Konkret: An welche Länder denken Sie? 

Ein Beispiel ist die Beziehung des Westens zu Saudi-Arabien. Das saudische Regime hat derzeit, wie viele andere Länder auch, mit islamischem Fundamentalismus zu kämpfen. Mehr als die Hälfte der Attentäter vom 11. September 2001 waren saudische Staatsangehörige. 

Daran sind das Öl schuld und der Westen?

Man kann es so sagen:Es gibt politische und soziale Spannungen in energiereichen Ländern, die mit größerer Wahrscheinlichkeit einen kritischen Punkt erreichen, wenn ausländische Investoren zu lange zu eng mit Regimes kooperieren, die keine echten Vertretungen ihrer Völker sind. Das Interessante am Beispiel Saudi-Arabien ist, dass es bisher sogar eher weniger zu instabilen Verhältnissen in Saudi-Arabien geführt hat als zu internationaler politischer Instabilität. Viele Argumente in der Propaganda von al-Qaida haben mit der engen Verbindung zwischen der US-Regierung und der Regierung Saudi-Arabiens zu tun. 

Öl wird irgendwann ausgehen im Nahen Osten. Was geschieht dann? 

Dafür gibt es zwei Szenarien. Das eine ist: In fünfzig oder sechzig Jahren wird das Geld, das Staaten wie Saudi-Arabien, Irak oder der Iran durch den Export von Energieträgern eingenommen haben, zu einer Entwicklung und Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in diesen Ländern auf breiter Basis geführt haben. In diesem Fall wird es ihnen nichts ausmachen, wenn die Vorräte so gering sind, dass es nicht mehr wirtschaftlich sein wird, sie auszubeuten. Das andere Szenario: Die derzeitige Situation wird sich fortsetzen. Das heißt: Diese Länder werden hauptsächlich vom Energiesektor abhängig sein, weil sie Schwierigkeiten haben, andere Wirtschaftszweige zu entwickeln. Wenn dann das Öl ausgeht, bricht ihre Wirtschaft zusammen – mit noch negativeren Folgen für ihre politische Situation. 

Welches Szenario ist realistischer? 

Wenn man die derzeitigen Trends nimmt: das zweite. 

Klingt nicht gut. 

Kann man so sagen. 

Wird es Krieg um Energieressourcen geben? 

Öl und Konflikte sind in den letzten hundert Jahren immer eng verbunden gewesen. Viele militärischen Entscheidungen im Zweiten Weltkrieg hatten mit Energiefragen zu tun – damit, Energieressourcen zu kontrollieren, zum Beispiel im Kaukasus. Öl ist für viele Länder von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung, daher sind sie wohl bereit, dafür auch in den Krieg zu ziehen. 

In Europa erregte zuletzt Aufsehen, dass der russische Konzern Gasprom der Ukraine das Gas abstellte. Viele verstanden das als politisches Druckmittel. 

Das hatte in der Rhetorik etwas vom Kalten Krieg. Russland schätzte vollkommen falsch ein, wie der Westen auf die Entscheidung im Januar reagieren würde, die Gaslieferungen an die Ukraine einzustellen. Aus russischer Sicht war das nur ein logischer Schritt auf dem Weg, die Preise für Lieferungen an die Ukraine an den Weltmarktpreis anzugleichen. Was die russische Seite nicht bedachte, war, wie das die westlichen Energieverbraucher sehen würden. Viele Russen wiederum denken, der Westen habe überreagiert. 

Also war alles nur ein Problem der Sichtweise? 

In der freien Marktwirtschaft ist die Wahrnehmung ebenso wichtig wie die Realität. Das wiederum ist die Ähnlichkeit zum Kalten Krieg. So wichtig wie die Realität war da, was beide Seiten für real hielten. Daher ist es in all den Energiefragen unserer Zeit von großer Bedeutung, dass die betroffenen Seiten miteinander reden, viel mehr, als das bisher der Fall ist. 

Können Energiefragen bestehende Bündnisse verändern? 

Auch da spielt China eine große Rolle. Veränderungen auf dem Energiemarkt können zu bedeutenden geopolitischen Veränderungen führen, zur Neuausrichtung auch von Bündnissen zwischen Staaten. Das muss nichts Schlechtes sein. Die Geschichte zeigt, dass Staaten weniger dazu neigen, Konflikte mit militärischen Mitteln auszutragen, je vielfältiger und tiefer ihre wirtschaftlichen Beziehungen sind, weil es eine gegenseitige Abhängigkeit gibt. 

Gerade die EU-Staaten werden immer abhängiger von Energie-Importen. Wo ist denn da die Gegenseitigkeit? 

Diese Abhängigkeit gibt es, keine Frage. Aber nehmen wir an – eine reine Spekulation meinerseits –, dass Russland in 15 Jahren große Vermögenswerte in der Energiewirtschaft besitzt, zum Beispiel Gasverteiler-Netzwerke. Dann ist es auch für einen Gasexporteur wie Gasprom von großer Bedeutung,dass seine Märkte sicher sind. Westliche Regierungen hätten als Druckmittel die Möglichkeit,im schlimmsten Falle diese Vermögenswerte zu nationalisieren oder Verträge mit Gasprom aufzukündigen. 

Also ähnlich zu reagieren wie Venezuela heute. 

Genau. Also haben beide Seiten etwas zu verlieren. Oder die importierenden Länder wenden sich woandershin. Bleiben wir beim Gas: Es gibt eine Menge Gas in Nordafrika und im Nahen Osten. Es dauert, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, aber es würde funktionieren. Oder der Westen kümmert sich verstärkt um erneuerbare Energien und Kernkraft. Es ist einfach ein Machtspiel. 

Deutschland hat den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Hat das einen Einfluss auf die deutsche Position in diesem Machtspiel? 

Kernkraft auszuschließen bedeutet ganz klar, einen Spielchip aus der Hand zu geben. Die Kernkraft ist mit vielen Umweltfragen verbunden, Fragen der öffentlichen Akzeptanz. Es spricht sehr für Deutschland, dass es darüber einen politischen Prozess gibt und die Menschen, die Kernkraft ablehnen, sich einbringen können. Aber: Das Abwägen zwischen Umweltfragen und der Energiesicherheit muss mehr ein Gegenstand öffentlicher Debatte werden.

Daniel Litvin, 34, war Korrespondent für Energie- und Umweltthemen des britischen Wirtschaftsmagazins „The Economist“. Heute berät er global operierende Unternehmen in Fragen sozialer Verantwortung. Unter anderem war er politischer Berater für Rio Tinto, den weltgrößten Bergwerkskonzern. Von Litvin erschien zuletzt: „Weltreiche des Profits. Die Geschichte von Kommerz, Eroberung und Globalisierung“. Daniel Litvin lebt in London.