Mindestens 50.000 Menschen sind bei den schweren Erdbeben in der Südosttürkei und Nordsyrien ums Leben gekommen. In der unvorstellbaren Zerstörung versuchen die Menschen nun weiterzuleben. Wir haben mit Ehrenamtlichen gesprochen, die vor allem in der türkischen Provinz Hatay Hilfe organisieren.
Cansel Aslan ist 36. In den ersten Tagen nach dem Beben ist sie in ihren Heimatort Samandağ zurückgekehrt. Sie arbeitet bei der selbstorganisierten Gruppe Hatay Deprem Dayanışmasında (Hatay Erdbeben-Solidarität). Ihren Job als Elektroingenieurin in Ankara hat sie dafür gekündigt.
fluter.de: Cansel, wie ist die Lage gerade?
Es kommen leider viel weniger gespendete Hilfsgüter an als noch in den ersten Tagen. Außerdem fehlt Trinkwasser, das ist ein großes Problem. Nach einem Aufruf über Social Media letzte Woche haben unsere Freunde zwar fleißig Wasser geschickt. Aber wir sehen immer noch, dass die Behörden keinen Schritt unternehmen, um das Problem dauerhaft zu lösen.
Immer wieder hört man, dass es im Erdbebengebiet auch an Zelten fehlen soll.
Schon seit dem ersten Tag gibt es mehr Bedarf an Zelten als Zelte. Allein bei uns in Samandağ haben wir über 400 Anfragen für Zelte registriert, zum Beispiel von Familien mit Kindern, Familien mit Menschen mit Behinderungen oder älteren Menschen. Der Staat war bei den Such- und Rettungsmaßnahmen im Verzug, konnte keine Hilfe organisieren, und ist dazu immer noch nicht in der Lage. Das ist der Hauptgrund, warum die Not immer noch so groß ist.
Viele Menschen sind bereits aus dem Erdbebengebiet evakuiert worden oder haben es selbst verlassen. Wer ist noch da?
Menschen, die nicht wissen, wohin sie gehen könnten; Menschen, die nicht die finanziellen Mittel haben, um zu gehen. Meistens Ältere und Familien mit Menschen mit Behinderungen. Jeden Tag erhalten wir Dutzende von Anfragen von Personen, die besondere Pflege, Medikamente und Hilfsmittel benötigen.
Was wird am meisten benötigt?
Der Bedarf an hygienischen Toiletten und Duschen wird von Tag zu Tag größer. Experten warnen, dass fehlende Hygiene ernsthafte Gesundheitsprobleme zur Folge haben wird, wenn es wärmer wird. Wir brauchen auch saubere Kleidung für die, die alles verloren haben. Und das Problem der Unterbringung für viele Menschen ist nach wie vor nicht gelöst.
Seçkin Barbaros, 36, lebt eigentlich in Istanbul. Seit dem 7. Februar, dem Tag nach den Beben, hilft er als Freiwilliger in Antakya. Die alte Stadt ist stark zerstört, hier lebten Angehörige vieler ethnischer und kultureller Minderheiten miteinander.
Seçkin, wie geht es den Menschen in Antakya?
Die Menschen sind in großer Trauer, alle haben Angehörige verloren. Es fühlt sich an, als würde gerade die Beerdigung dieser Stadt stattfinden. Das veranlasst die Menschen, gemeinsam zu trauern und ihren Schmerz miteinander zu teilen.
Wie helfen?
Wer die Menschen in der Erdbebenregion unterstützen möchte, kann das mit Spenden tun. Die meisten Organisationen bitten um Geldspenden, da diese effizienter und flexibler eingesetzt werden können. Sachspenden sind nur dann sinnvoll, wenn Organisationen konkret dazu aufrufen. Expert:innen empfehlen, an Organisationen zu spenden, von denen bekannt ist, dass sie vor Ort aktiv sind. Einen guten Überblick über verschiedene Aktionen und Organisationen im Erdbebengebiet bietet das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen. Dort gibt es auch weitere Hinweise, worauf man beim Spenden achten sollte.
Was bedeutet die Zerstörung für die kulturellen und religiösen Minderheiten dort?
In Antakya leben viele Alawiten (auch „Nusairier“: arabischsprachige religiöse Minderheit, gehört zum schiitischen Spektrum des Islam; nicht zu verwechseln mit Aleviten, Anm. d. Aut.), sie bilden teilweise die Mehrheit hier. Auch ich selbst bin Mitglied der alawitischen Kultur. Die Zerstörung ist auch eine ernsthafte kulturelle Zerstörung. Die Menschen versuchen, ihre Viertel wenn möglich nicht zu verlassen. Sie wollen nicht in die Container- oder Zeltstädte, die der Staat ihnen anbietet.
Warum nicht?
Sie haben die Sorge, dass sie von hier vertrieben werden und dass sie ihre kulturelle Struktur dann verlieren, also das Gleichgewicht des Zusammenlebens, das seit Tausenden von Jahren hier bestand. Sie haben Angst, dass der Staat sie ethnisch und konfessionell diskriminiert. Andere betreiben hier Ackerbau und Viehzucht und wollen deswegen so schnell wie möglich wieder in Antakya leben.
Was wird am dringendsten benötigt?
Die Spenden sind stark zurückgegangen. Mit am wichtigsten zurzeit: alle Hygieneartikel, Grundnahrungsmittel und Wasser, auch Kleidung. Eine der größten Befürchtungen ist, dass Antakya wie Şanlıurfa überschwemmt werden könnte.
Anita Starosta, 38, arbeitet bei der Hilfsorganisation medico international als Öffentlichkeitsreferentin für Syrien, Irak und die Türkei. Anita war nach dem Erdbeben in der Südosttürkei, hat dort Projektpartner besucht und sich ein Bild von der Lage gemacht.
Anita, was macht ihr als Hilfsorganisation mit den Spenden?
Wir arbeiten nicht mit den großen Hilfsorganisationen zusammen, sondern mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, die wir mit Geld unterstützen. Wir gehen davon aus, dass die lokalen Strukturen wissen, wie sie die benötigten Sachen auf den lokalen Märkten besorgen können. Gerade in diesen Nothilfesituationen zahlt sich das aus, weil es auf jeden Tag, jede Stunde ankommt. Das war jetzt eben auch so, dass die Partnerorganisationen Grundbedarfe relativ schnell einkaufen konnten: in der Türkei vor allem Lebensmittel und Hygieneartikel, in Syrien Decken und Zelte, aber auch Medikamente. In der Türkei haben wir das inzwischen ausgeweitet und helfen zum Beispiel bei Mietzahlungen.
Gibt es Fallstricke bei eurer Arbeit?
Es ist zum Beispiel schwierig, darüber zu sprechen, mit wem wir in der Türkei zusammenarbeiten. Oft sind es kurdische Initiativen, die aber mit staatlichen Repressionen rechnen müssen, wenn klar ist, dass sie auch von Deutschland aus unterstützt werden. Ich war in Pazarcık in einem selbstorganisierten Hilfszentrum. Das wurde einen Tag später vom Stadtverordneten gemeinsam mit Polizei und Militär übernommen, die auch die Hilfsgüter beschlagnahmten. Den Freiwilligen wurde gesagt: Ihr könnt unter unserer Führung arbeiten, oder ihr werdet inhaftiert. Es ist klar, dass die umliegenden Dörfer über dieses Zentrum versorgt werden müssen. Selbst in so einer Notlage ist es den staatlichen Strukturen ein Dorn im Auge, wenn sich dort kurdische zivilgesellschaftliche Initiativen bilden.
In der Türkei gibt es längst Debatten über den Wiederaufbau. Präsident Erdoğan hat den Menschen versprochen, innerhalb eines Jahres alles wiederaufzubauen. Wie schätzt ihr das ein?
Wir haben uns in Diyarbakir mit verschiedenen Expert:innen getroffen, die alle gesagt haben, es sei absolut unrealistisch, dass in einem Jahr alle obdachlos gewordenen Familien wieder ein Dach über dem Kopf haben. Sie haben eher von fünf Jahren gesprochen. Uns ist klar, dass unser Engagement mit der Nothilfe nicht aufhört. Wir sind seit Jahren in der Region aktiv und werden wir auch in den nächsten Jahren dort weiterarbeiten.
Fotos: Murat Türemiş / laif - Portraits: privat