Ich stand in diesem Klub, die Musik war nicht schlecht, aber auch nicht gut. Das Mädchen aber, das da an der Wand lehnte und ständig lachte,das war wunderbar. Aber nicht nur das.Sie war, soweit ich das ohne ein gesprochenes Wort wissen konnte, auch interessiert, wenigstens ein bisschen.Zumindest schaute sie regelmäßig zu mir rüber. So stand ich da und wartete, dass irgendwas passieren würde. Vielleicht könnte sie stolpern, oder irgendjemand könnte sie bedrohen, sodass ich sie retten müsste – und sie mich lieben. Ich stand, ich wartete, schaute, lächelte. Es passierte: nichts. Es war erbärmlich. Sie verharrte an der Wand, sah mich an,lächelte. Ich seufzte und verstand. Auch wenn wir beide recht offensichtlich wollten, dass hier etwas passierte, war es wohl meine Aufgabe, den ersten Schritt zu tun. Ich war ein bisschen verärgert und ein bisschen hilflos: Vor diesen „Aufgaben eines Mannes“ hatte ich mich immer gedrückt, wo es nur ging. Mit dieser Rollenverteilung wollte ich nichts zu tun haben. Schuld an dieser Misere sind meine Eltern und ein Mädchen namens Ulrike. Meine Eltern, weil sie mir – sicher mit besten Absichten – eine Welt vorgegaukelt hatten, in der Jungs und Mädchen gleichberechtigt sind und gleich behandelt werden. Konkret hieß das: Meine Schwester und ich bekamen keine himmelblauen und rosafarbenen Hemden, dafür beide Autos und Puppen als Spielzeug, wir hatten die gleichen Pflichten in der Küche und beim Fahrradreparieren. Außerdem war da Ulrike. Ulrike war ein Rabaukenmädchen, mit ihr konnte ich alles tun, was man sich von guten Freunden so erwartet: Fußball spielen, auf Bäume klettern, Sandburgen bauen. Wenn wir Ärger bekamen, bekamen wir ihn beide. Wenn wir etwas wollten, dann entweder beide oder keiner. Wir waren nicht nur Freunde, wir waren – bis auf Details, die in diesem Alter total irrelevant waren – gleich. Dass sie ein Mädchen war und ich ein Junge, das war egal.

Ich war überzeugt, dass es so bleiben würde. Bis ich in die Schule kam. Ich war ein netter, langweiliger Junge, der seine Hausaufgaben machte und eher zurückhaltend war. Trotzdem bekam ich die volle Breitseite der Geschlechterrollen ab: Strafarbeiten, Ermahnungen, mäßige Noten in Betragen. Ich saß in einer Bank mit Jungs, und in den Augen der Grundschullehrerin war es wohl Gleichbehandlung, dass alle Jungs die gleiche Strafarbeit bekamen. In ihrer Welt wuchsen jedem Jungen unsichtbare Teufelshörner, während über den Köpfen der Mädchen unsichtbare Heiligenscheine schwebten. Erst war ich verärgert, dann wütend. Wichtig war offenbar nicht, wer ich war, sondern allein, was ich war: ein Junge. Aus der Wut wurde Trotz: Wenn ich schon die volle Wucht der Klischees abbekam, dann wollte ich auch die Narrenfreiheiten. Ich wollte unvernünftig, vorlaut und großmäulig sein und über schlechte Witze lachen, kurzum: Ich wollte mich in meine Rolle als Junge fügen. Umso verdutzter war ich, als ich Jahre später feststellte, dass nicht mehr die fleißigen, ruhigen und netten Mädchen in der allgemeinen Gunst standen, sondern ich,der Junge. Was war passiert? Nicht mein Betragen hatte sich verändert, auch nicht die Rollenbilder – sondern das Spielfeld: Statt mit Dosen auf dem Schulhof kickten wir mit Argumenten, während das flegelhafte Verhalten blieb. Der Unterschied: Nun war es erwünscht. Es war in einem Seminar an der Universität und die Diskussion entwickelte sich in eine Richtung, bei der immer weniger die Sach- oder Textkenntnis gefragt war, sondern allein Selbst- und Sendungsbewusstsein. Mit jedem Wortbeitrag stieg der Hormonspiegel der Debatte – und übrig blieben junge Männer mit weit ausgefahrenen Ellenbogen, bis unter die Zähne mit Ego und Wortmacht bewaffnet. Einer davon war ich. Ich merkte, dass ich an diesem verbalen Machtspielchen wunderbar teilnehmen konnte, während Hannah, die neben mir saß und den Text tatsächlich gelesen hatte, sogar zweimal, schwieg. Ich schämte mich und verstand, dass sich seit der Grundschule vieles geändert hatte – eigentlich alles, mich eingeschlossen. Diese Welt,erkannte ich, ist ein Ort für Ellenbogen und Rabauken. Auch wenn das nicht meine Art war, es war meine Rolle. Zumindest, wenn ich Erfolg haben wollte. Also nahm ich mir, an diesem Abend, in diesem Klub, ein Herz, und schaltete auf Rabaukenmodus. Was ich genau sagte, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß noch, wie das Mädchen und ich irgendwann zu knutschen begannen. Das Wissen, dass ich,sollte aus diesem Abend mehr werden, wohl für das Tragen von Taschen, das Bezahlen von Getränken und das Reparieren von technischem Gerät zuständig wäre, hinterließ jedoch einen schalen Geschmack.