1965 war ein historisches Jahr für die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung. Hundert Jahre zuvor hatte Abraham Lincoln den 13. Zusatzartikel zur Verfassung unterzeichnet und damit die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abgeschafft. Wirklich viel zu feiern gab es allerdings nicht: De facto besaßen die Afroamerikaner bis weit ins 20. Jahrhundert nicht dieselben Bürgerrechte wie die weiße Bevölkerung der Vereinigten Staaten. So hob der Oberste Gerichtshof erst 1954 die Segregation an öffentlichen Schulen auf.
Auch mit der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 durch den US-Kongress änderte sich für die meisten Afroamerikaner nur wenig. Gesetzlich war die Rassentrennung damit zwar aufgehoben, doch besonders die Südstaaten nahmen sich bei der Umsetzung des neuen Gesetzes viel Zeit. Der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King verstärkte den politischen Druck auf Präsident Lyndon B. Johnson. Im März 1965 rief er zu einem Protestmarsch von der Kleinstadt Selma quer durch Alabama bis in die 80 Kilometer entfernte Hauptstadt Montgomery auf. Ava DuVernays Film „Selma“ rekonstruiert die Geschichte der insgesamt drei Selma-Montgomery-Märsche.
Gleich der Beginn des Films verdeutlicht den strukturellen Rassismus in den 60er-Jahren. Ein Beamter des Wahlbüros von Selma schikaniert Annie Lee Cooper (gespielt von Oprah Winfrey) mit einem kleinen „Test“ in amerikanischer Politik und verwehrt ihr schließlich den Eintrag in das Wählerregister. Eine Reform des Wahlrechts war die zentrale Forderung der Bürgerrechtsbewegung, da der Civil Rights Act viele Afroamerikaner weiter der Willkür lokaler Behörden und einem diskriminierenden Registrierungsverfahren aussetzte und sie damit von der Wahl ausschloss.
Als sich die Lage in „Selma“ zuzuspitzen droht, reist King mit seinem Team in der Kleinstadt an. Seine Strategie ist die Eskalation: Durch friedliche Proteste will King die Polizei zu Gewalthandlungen provozieren und die Medien benutzen, um der Öffentlichkeit das brutale Vorgehen der Polizei vor Augen zu führen. Der Plan geht auf – fordert jedoch Opfer. Bei einer nächtlichen Protestaktion stirbt im Februar der junge Aktivist Jimmie Lee Jackson, und der erste Marsch am 7. März 1965 wird von der Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken vor laufenden Fernsehkameras niedergeprügelt. Er geht als „Bloody Sunday“ in die amerikanische Geschichte ein.
Kings Unterstützer beginnen am Prinzip des gewaltfreien Widerstands zu zweifeln. Sehr detailliert beschreibt Regisseurin Ava DuVernay die Mechanismen einer politischen Protestaktion und die Dynamik innerhalb der Bürgerrechtsbewegung, deren gegenläufige Kräfte in den internen Auseinandersetzungen offen zutage treten. King, von David Oyelowo als zerrissene Persönlichkeit zwischen Gottvertrauen und politischem Pragmatismus gespielt, muss in der Öffentlichkeit mit dem Selbstverständnis eines starken Anführers auftreten. Hinter den Kulissen fällt ihm aber auch die Rolle des Mittlers zu. Seine Unterredungen mit Lyndon B. Johnson, dessen Handeln ebenfalls von äußeren Zwängen bestimmt ist, sind ein Musterbeispiel für Realpolitik.
Innerhalb der Bewegung wachsen die Widerstände, als King den zweiten Selma-Montgomery-Marsch aus Sicherheitsgründen abbricht, obwohl die Polizei den Weg über die Edmund Pettus Bridge freigibt. Seine Entscheidung rechtfertigt er mit seiner Politik der Verhältnismäßigkeit. In einer erbitterten Diskussion erklärt King seinen Anhängern, dass er es nicht verantworten kann, weitere Menschenleben zu riskieren. Die Konzentration auf Konfliktsituationen wie diese macht „Selma“ zu einem packenden Dialogfilm, der viel über das gesellschaftliche Klima in den 1960er-Jahren verrät. Die Proteste von Selma erscheinen nicht im Lichte eines triumphalen Pathos, mit dem sie rückblickend leicht verklärt werden könnten, sondern als Konsequenz eines komplizierten politischen Prozesses.
Darüber hinaus gelingt es DuVernay auch, die politischen Kämpfe immer wieder an persönliche Konflikte und Erfahrungen anzuknüpfen. Dabei hilft ihr nicht zuletzt ein großartiges Darstellerensemble, aus dem Carmen Ejogo als Kings Frau Coretta und der immer verlässliche Wendell Pierce als Hosea Williams eine besondere Erwähnung verdient haben.
So besitzt „Selma“ eine Vielstimmigkeit, die den entscheidenden Unterschied zu einem klassischen Biopic über das Leben von Martin Luther King macht. Damit bekommt DuVernays Film vor dem Hintergrund der Proteste von Ferguson im vergangenen Jahr eine große Aktualität. Denn „Selma“ ist nur zweitrangig ein Film über eine charismatische politische Führungsfigur – und eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. DuVernay zeigt vor allem eine mächtige Bewegung und bezeugt so eine kollektive Erfahrung des zivilen Widerstands.