Belitung sieht aus wie das Paradies auf Erden. Gibt man den Namen der indonesischen Insel bei Google ein, so springen große Felsen an feinen weißen Sandstränden ins Auge, türkisblaues Meer, natürlich Palmen und das eine oder andere Fischerboot. Aus dieser Postkartenidylle stammt der Autor Andrea Hirata.

Dass aber das Leben der Menschen auf Belitung alles andere als paradiesisch ist, erzählte er schon in seinem ersten Buch „Die Regenbogentruppe“, das 2013 in deutscher Übersetzung erschien. Der Zinnabbau dominiert in Hiratas Kindheit die Inselökonomie; wer kein Fischerboot besitzt, muss als schlecht bezahlter Arbeiter in der Mine schuften. Schulbildung für arbeitsfähige Kinder ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten können.

Umso mitreißender geriet Andrea Hiratas Liebeserklärung an seine Grundschule. Einst hatte der heute 38-Jährige seiner Lehrerin versprochen, er werde ein Buch über sie schreiben, als Geschenk nur für sie und seine ehemaligen Mitschüler war „Die Regenbogentruppe“ ursprünglich gedacht. Stattdessen wurde der Roman in Indonesien der größte Bestseller aller Zeiten, es gibt eine Verfilmung, Übersetzungen in zwei Dutzend Sprachen, ja sogar eine Musicalversion.

Das Touristenaufkommen auf der Insel sei um ein Vielfaches gestiegen, „um 1.800 Prozent“, erklärt Andrea Hirata, seit er 2005 „Die Regenbogentruppe“ veröffentlicht hat. Damals war er noch Angestellter der indonesischen Telekom. Schon sein beruflicher Werdegang bis dahin, das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Pariser Sorbonne und in Sheffield mit einem Stipendium der EU, war sensationell für den Sohn eines armen, analphabetischen Zinnarbeiters aus Belitung.

Mittlerweile hat Andrea Hirata insgesamt sieben Bücher geschrieben und seinen Job als Telekommunikationswirt aufgegeben. Das zweite Buch ist gerade auf Deutsch erschienen. „Der Träumer“ heißt es, und ebenso wie „Die Regenbogentruppe“ ist es eine mit frei fantasierten Elementen durchsetzte Aufarbeitung von Hiratas eigener Biografie.

Eine Frage der Einstellung

Es ist schwer zu sagen, wie er das macht, aber dieser Mann kann so inspirierend vom Leben erzählen wie sonst niemand. Wobei das wahrscheinlich gar nicht so sehr eine Frage des „Wie“ ist, sondern eine Frage der Einstellung. „Der Träumer“ beginnt mit einem poetischen Naturbild: dem sogenannten „blauen Augenblick“, einem seltenen Naturschauspiel, bei dem die gesamte Welt für Momente wie in blaue Farbe getaucht scheint. In Belitung besteht der Volksglaube, dass man, wenn man während des blauen Augenblicks die Luft anhält, einen guten Ehepartner findet.

Ob der Ich-Erzähler auch selbst diese Atemübung praktiziert, erfahren wir nicht. Doch definitiv handelt es sich auch bei ihm um einen unverbesserlichen und ausdauernden Romantiker. Noch als Student in Europa trauert Ikal, wie er von allen genannt wird, seiner ersten Liebe hinterher, dem chinesischen Mädchen mit den wunderschönen Fingernägeln, das er während seiner Grundschulzeit kennenlernte und das mit seiner Familie von der Insel fortzog.

„Der Träumer“ erzählt von den zahlreichen Stationen, die Ikal durchlaufen muss, bis er endlich seinen Studienabschluss in der Tasche hat. Es ist also, ganz wörtlich genommen, ein Bildungsroman. Und zwar einer, in dem ungewöhnlich deutlich wird, welch immensen Wert Bildung einerseits besitzt – aber andererseits auch, wie furchtbar relativ dieser Wert sein kann, wenn die Umwelt nicht die geeigneten Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Ikal und sein Cousin Arai nehmen jahrelang viele Mühen und Entbehrungen auf sich, um zur Oberschule gehen zu können, arbeiten nachts als Hilfsarbeiter im Hafen und lernen tagsüber. Aber auch der glänzende Oberschulabschluss bringt beide zunächst nicht weiter. In Jakarta, wohin sie sich hoffnungsvoll begeben, finden sie keine Jobs, und auch ein Stipendium gibt ihnen niemand. Der Weg nach Europa will sich nicht öffnen.

Der Autor beschönigt nichts

Es sind echte Härten des Lebens, die da zur Sprache kommen. Der Autor beschönigt nichts. Aber auch die Phasen der Mutlosigkeit werden in seinen Erzählungen mit Beharrungsvermögen und Lebensmut irgendwann überwunden. Und können – das ist wohl eines der Geheimnisse von Hiratas Erfolg – im Rückblick als unerschöpfliche Quelle erzählerischen Humors dienen.

Es ist eine feine, sehr menschenfreundliche Art von Humor, wie man sie aus der europäischen Erzähltradition eher weniger kennt. Hirata ist jede Leichtfertigkeit und ironische Uneigentlichkeit fremd. Gefühle der Liebe sind ihm heilig, sei es die Liebe zu seinem Vater, zur Schule oder eben zu jenem Mädchen, dem Ikal als Junge verfallen war und das er, einfach unverbesserlich, sogar in Paris sucht.

Es ist eine fast naiv anmutende und eben dadurch zu Herzen gehende Ernsthaftigkeit des positiven Gefühls, die sich bei diesem Erzähler so wunderbar paart mit seinem Vermögen, auch unangenehmen Erlebnissen gute Seiten abzugewinnen: Man kann sie als Lebenserfahrung verbuchen – oder eben eine lustige Anekdote daraus machen. Zum Beispiel aus jener Episode, in der Ikal und Arai in einem stinkenden, aber durch die Gärung wärmenden Laubhaufen eine lausig kalte Nacht in einem belgischen Park überstehen, weil ein missgelaunter Verwaltungsangestellter ihnen außerhalb seiner Dienstzeit kein Zimmer zuweisen wollte. Doch, das ist wirklich lustig! Humor ist eben immer, was man draus macht.