Auf einen Platz in der Liste der lebenswertesten Städte hätte Gotham City schlechte Chancen. Ein „steinernes Labyrinth für Ratten“ nannte Frank Miller die Metropole im Vorwort seines wegweisenden Batman-Comics „Year One“. Überall „Schächte aus Beton, beschienen von kaltem Mondlicht, windgepeitscht und bodenlos“. Die Geräuschkulisse? „Ein trauriges Brüllen, ohne Unterlass und unabänderlich.“ Ein Moloch voller Schmutz und Verbrechen. Das ist weit weg vom betulichen Entenhausen oder Supermans Wahlheimat „Metropolis“.
Als Erster gezeigt und nachhaltig definiert hat Gotham der Zeichner Bob Kane. Bereits im allerersten Bild der allerersten Batman-Geschichte „The Case of the Chemical Syndicate“ aus dem Jahr 1939 wacht der Fledermausmann auf einem Hausdach, im Hintergrund der Vollmond und eine schwarze Wand aus Wolkenkratzern. Das war und ist die Blaupause.
Nun haben sich über die Jahrzehnte diverse Künstler in ihrem eigenen Stil an der Stadt abgearbeitet, und auch der Zeitgeist hat nicht nur die Figur Batman stets zu beeinflussen gewusst. In den späten 1950er-Jahren waren die Batman-Comics bunte Science-Fiction, die Bilder dementsprechend sauber und optimistisch, die Stadt ein „urbaner Spielplatz voller gigantischer Schreibmaschinen und anderen gewaltigen Requisiten“, wie Alan Moore, ein weiterer Batman-Autor, sagt. Das war dem Zukunftsoptimismus jener Jahre geschuldet, aber auch der Comics Code Authority geschuldet: Aus Angst vor Zensur eliminierte dieses von den Verlagen gegründete Gremium alles, was irgendwie als anstößig empfunden werden konnte. Dass Böse über Gut triumphiert, war damals undenkbar.
Erst in den 1970ern wurden die Storys wieder düsterer und realistischer. Die Leserschaft war inzwischen deutlich älter, und so hielten aktuelle Diskussionen über Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und Rassismus in den Heften Einzug. Das Stadtbild veränderte das dahingehend, dass plötzlich auch Entzugskliniken, Suppenküchen und Jugendclubs darin auftauchten. Unter Autoren wie Miller versank Gotham in den 1980ern dann endgültig in einem Sumpf der Gewalt. Als „eine dunkle und unfreundliche Stadt im Niedergang, bevölkert von tollwütigen und soziopathischen Straßengangs“ beschrieb sie Alan Moore zu jener Zeit.
Vor dem Hintergrund von Tschernobyl, nuklearer Aufrüstung und einer in vielen US-amerikanischen Metropolen vor Gangkriminalität kapitulierenden Staatsmacht wurde Batman zum gequälten, aber auch kontrollbesessenen Reaktionär. Halb Sisyphos, halb „Dirty Harry“ zog er durch ein kaputtes Gotham, wofür seine Autoren mitunter heftig aus dem linken Lager kritisiert wurden. Wie immer man dazu stehen mag, es zeigt: Gotham City war immer auch Spiegelbild aktueller politischer und sozialer Debatten.
In der offiziellen Geschichtsschreibung des Batman-Kosmos wurde Gotham im frühen 17. Jahrhundert gegründet, schnell entstanden Gerüchte, dass dort okkulte Riten vollzogen würden. Vorwürfe, die auch in späteren Jahren nie verstummten und der Stadt von jeher eine zwielichtige Aura verliehen.
Welche reale Stadt das Vorbild für Gotham City war, ist dabei kein Geheimnis: New York. „Gotham“ ist ein auf den Autor Washington Irving zurückgehender Spitzname für die Millionenstadt an der Ostküste der USA, die in einigen der ersten Batman-Geschichten Ende der 1930er-Jahre mitunter auch noch als Handlungsort genannt wurde. Der Name Gotham City fiel dann das erste Mal im Jahr 1941.
Doch auch New York ist groß, die Upper East Side ist nicht die Bronx. Der Batman-Autor Dennis O’Neil verortete Gotham deshalb einmal in „Manhattan südlich der 14. Straße um elf nach Mitternacht in der kältesten November-Nacht“. Doch das war lange bevor in New York in den 1990er-Jahren der Law-and-Order-Bürgermeister Rudy Giuliani mit seiner Null-Toleranz-Strategie das große Aufräumen begann und die Kriminalitätsrate in der Stadt signifikant senkte. Heute orientieren sich viele der „Batman“-Autoren und auch Regisseure wie Christopher Nolan eher an dem für seine Korruption und Mordrate berüchtigten Chicago.
Trotz aller Neuverortungen, Stilwechsel, Moden und Brüche lassen sich in der Architektur der Stadt einige Konstanten ausmachen. Besonders zwei Baustile waren bei der Gestaltung stets besonders einflussreich: zum einen die Neugotik des 19. Jahrhunderts mit ihren sakral anmutenden Turmbauten, berühmte Beispiele sind das Woolworth Building in New York, das Rote Rathaus in Berlin oder der Palace of Westminster in London. Zum anderen der Jugendstil des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie er beim verschnörkelten Gebäude der Wiener Secession oder beim goldgekrönten Carbide and Carbon Building in Chicago zu finden ist. 1998 wurde Gotham in dem Erzählstrang „Cataclysm“ von einem Erdbeben erschüttert, doch auch der Wiederaufbau mit Glas und Beton konnte die alte Architektur nicht völlig verdrängen.
Bei der Gestaltung Gotham Citys nahmen die zahlreichen Batman-Zeichner immer wieder tatsächlich existierende Bauten als Vorbild. Die Kathedrale von Gotham in Grant Morrisons und Klaus Jansons „Gothic“ erinnert deutlich an die St. Patrick’s Cathedral in New York. Der Künstler Dave Taylor wiederum schuf für das Album „Death by Design“ die Wayne Central Station in Anlehnung an die 1929 fertiggestellte Boston Avenue Methodist Church in Tulsa, Oklahoma, die mit ihrer Säulenfassade als einer der schönsten Art-déco-Bauten überhaupt gilt. Das Album widmete er dann auch explizit dem 1962 verstorbenen Designer und Architekten Hugh Ferriss, dessen Markenzeichen düstere, von harten Licht-Schatten-Kontrasten geprägte Ansichten von New Yorker Wolkenkratzern waren.
Bo Welch hingegen, der Szenenbildner des Tim-Burton-Films „Batman Returns“ aus dem Jahre 1992, gab als Inspiration die Architektur der Faschisten an, was sich beispielsweise in den gewaltigen Statuen im Stadtbild niederschlug. Und Paul Dini schließlich, einer der Produzenten der Zeichentrickserie „Batman – The Animated Series“, die von 1992 bis 1995 lief, verwies als Inspiration auf die New Yorker Weltausstellung 1939/40, deren Wahrzeichen eine 213 Meter hohe Metallnadel und eine gewaltige weiße Kugel von gut 60 Metern Durchmesser waren. „Was wäre, wenn die Weltausstellung einfach 60 Jahre lang weitergegangen wäre?“, fragte er sich und entwarf einen Wahnsinn aus Wolkenkratzern, Strebebögen und Wasserspeiern, in den kaum ein Strahl Sonnenlicht fällt.
Der Name, auf den dieses Design getauft wurde, könnte für Gotham und seine Aura der majestätischen Düsterkeit treffender nicht sein: „Dark Déco“. Gleichermaßen schön und schrecklich. Aber wohnen will man in so einer Stadt dann wohl doch eher nicht.
Moritz Honert ist beim Berliner „Tagesspiegel“ Redakteur des Reportage-Ressorts Seite Drei. Gemeinsam mit Lars von Törne betreut er darüber hinaus die Comicseite der Zeitung