fluter: Herr Welzer, man muss nur die Schlagworte aneinanderreihen: Nizza, Würzburg, München, Ansbach. Anschläge, Amokläufe, Gewalttaten. Die Taten selbst lassen sich zwar nicht in eine Reihe stellen, aber eines haben sie gemeinsam: Die deutschen Nachrichten klingen durch sie derzeit ungewöhnlich bedrohlich. Macht Ihnen das Angst?
Harald Welzer: Nein. Die Angst wäre irrational. Es ist immer noch wahrscheinlicher, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen als bei einem Anschlag oder Amoklauf.
Aber mit Statistiken lässt sich bei vielen Menschen das Gefühl der Bedrohung derzeit offenbar nicht vertreiben.
Dafür sind Statistiken nicht geeignet. Man muss verstehen, warum wir auf Taten wie diese mit einer Angst reagieren, der man mit dem Hinweis auf die viel höhere Zahl der Verkehrstoten nicht mehr beikommt. Wir leben in einer Kultur, die sich durch Erwartungssicherheit auszeichnet. Unser Leben und unser Alltag funktionieren heutzutage erstaunlich zuverlässig. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, kann ich davon ausgehen, dass ich gesund wiederkomme, wenn ich im Alter nicht mehr arbeiten kann, bekomme ich eine Rente und muss nicht verhungern – so viel Erwartungssicherheit hat es in früheren Phasen der Menschheitsgeschichte nicht gegeben. Diese Formen der Gewalt sind aber vollkommen irrational und unvorhersehbar. Sie passen nicht in das Konzept. Sie erschüttern unsere Vorstellung, dass die Gesellschaft verlässlich funktioniert.
Aufsehenerregende Gewalttaten haben sich, wie es scheint, gehäuft. Kann das wirklich Zufall sein oder ändert sich gerade etwas?
Ehrlich gesagt: Das kann keiner beantworten. Aber wir sollten einen Punkt im Blick behalten: Wir haben es inzwischen oft mit einer Art des Terrors zu tun, die unorganisiert ist. Früher schickte Osama bin Laden Attentäter los. Heute sagt der IS: Begeht eure Taten und widmet sie uns. Stellen Sie sich vor, was für eine verlockende Einladung das für einen verstörten, gewaltbereiten jungen Mann ist, der sonst kein Bein auf die Erde kriegt: Ein Verbrechen, mit dessen Möglichkeit er ohnehin gedanklich spielt, lässt sich mit einem schlichten Bekenntnis zum IS enorm aufwerten, der Täter kann seiner Tat noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Das mag irritierend erscheinen, ist psychologisch aber sehr naheliegend. Wenn ich schon in Desperado-Stimmung bin, dann suche ich mir irgendwas, wo die Weltöffentlichkeit mich zur Kenntnis nimmt. Es gibt leider auch ein gesellschaftliches Klima, das solche Taten attraktiv erscheinen lässt.
Haben wir so ein Klima in Deutschland?
Es heißt ja immer, viele Menschen seien verunsichert. Auf den ersten Blick wüsste man nicht, warum das im großen Stil so sein sollte. Die Wirtschaft läuft rund, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, man lebte nie sicherer als heute, alles prima.
„Präsident Hollande spricht nach den Attentaten von einem Krieg. Diese Worte geben einem verkrachten Terroristen genau das, was er will“
Aber?
Die Kommunikation ist eine andere. Wir haben Rechtspopulisten, deren Geschäft es ist, eine Politik der Angst zu betreiben, die auf vollkommen deplatzierte Weise vor Gefahren warnt Und wir haben inzwischen leider auch in den etablierten Parteien Politiker, die dieses Spiel mit der Angst der Menschen spielen. In diese aus meiner Sicht falsche Kommunikation bricht jetzt die Kaskade von Anschlägen.
Was wiederum eine Politik der Angst zu bestätigen scheint.
Ja. Ein Teufelskreis. Fatal. Oder schauen Sie nach Frankreich. Präsident Hollande spricht nach den Attentaten von einem Krieg. Es gibt keine unglücklichere Rhetorik. Diese Worte geben einem verkrachten Terroristen genau das, was er will. Er ist nicht mehr ein Krimineller oder ein Durchgeknallter, sondern ein Kriegsgegner.
Wäre über München anders berichtet worden, wenn nicht lange die Frage offen gewesen wäre, ob es sich um einen islamistischen Anschlag handelt?
Absolut. München ist ein Lehrstück für die verhängnisvolle Situation, in der wir uns befinden. Egal, was passiert, der erste Verdacht lautet: Terror. Natürlich haben wir immer noch Gewalt in dieser Gesellschaft, extrem reduziert im Vergleich zu anderen historischen Phasen, aber es gibt sie. Wir haben Gewalt in Pflegeheimen, wir haben pathologische Gewalt in Familien, in Schulen, auf der Straße. Dass wir so sehr dazu neigen, sie als extrem außergewöhnlich, als Terrorismus zu interpretieren, zeigt, wie hysteriebereit wir schon sind.
„Wir interessieren uns reflexartig und mit fast absurder Besessenheit für die Frage nach dem Motiv“
Es gab ja ein regelrechtes Aufatmen, als klar wurde, dass München kein islamistischer Anschlag war. Welchen Unterschied macht es, ob wir eine Tat als Anschlag oder als Amoklauf einstufen?
Die Fakten wären in München unter allen Vorzeichen identisch. Es gab ein fürchterlich brutales Verbrechen, bei dem neun unschuldige Menschen ums Leben kamen. Das ist schlimm genug. Aber wir interessieren uns reflexartig und mit fast absurder Besessenheit für die Frage nach dem Motiv. Ich empfehle die Gegenfrage: Was weiß ich eigentlich, wenn ich das Motiv weiß? Nichts. Es ändert nichts am Ergebnis, und für das nächste Ereignis dieser Art spielt es auch keine Rolle. Gerade bei dieser Form des unorganisierten Terrors. Da führt die Frage nach dem Motiv vollkommen ins Leere.
Kann ein bestimmtes Maß an Angst sinnvoll sein für eine Gesellschaft?
„Liebe Leute, das Leben ist mitunter gefährlich. Kann man aber nichts machen“
Es ist vielleicht sinnvoll, wenn Sie Angst vor einem Pitbull haben. Aber für eine Gesellschaft ist Angst immer schlecht, weil sie keine gute Grundlage ist, um Entscheidungen zu treffen.
Sie empfehlen Politikern statt der Forderung nach neuen Sicherheitsmaßnahmen das öffentliche Eingeständnis, kein Rezept zu haben.
Eigentlich müsste sich ein Innenminister nach so einem Ereignis hinstellen und sagen: Liebe Leute, das Leben ist mitunter gefährlich. Kann man aber nichts machen.
Interessante Vorstellung. Aber realistisch?
Nein, das würde als zynisch gelten oder als Ausdruck von Inkompetenz oder Überforderung. Ich kann mir keinen Journalisten vorstellen, der schreiben würde: Endlich mal ein cooler Satz von einem Minister.
Im Moment hat man den Eindruck, dass sich selbst viele Journalisten von der Nachrichtenlage überrollt fühlen. Nicht nur durch Amok und Anschläge, sondern auch durch viele andere Verunsicherungen: der Brexit, den man nicht für möglich hielt, den rasanten Demokratierückbau in der Türkei, die erschreckende Aussicht auf einen US-Präsidenten Donald Trump, das Erstarken von Rechtspopulisten in Deutschland und um uns herum. Irgendwie scheint da so ein apokalyptisches Gefühl aufzukommen, die Welt sei aus den Fugen.
Zumindest erleben wir eine Verdichtung von Ereignissen. Es verändert sich relativ viel, und wenn wir Pech haben, sieht die demokratische Welt in ein paar Jahren tatsächlich ganz anders aus, als wir uns das heute wünschen können. Natürlich hat Trump nichts mit München zu tun und der Brexit wenig mit der Türkei. Wenn man die Dinge sortiert, gibt es aber trotzdem einen gemeinsamen Kern, einen Zusammenhang. Und der lautet: Gesellschaften unseres Typs geraten zunehmend unter Stress. Und sie haben kein Konzept, damit umzugehen. Das macht es so gefährlich.
Titelbild: Jörg Koch