Der Künstler Stefan Sehler befand sich im Spätsommer 2001 mitten in den fieberhaften Vorbereitungen für eine Vernissage in New York. Doch dann brachte der Terroranschlag auf das World Trade Center die Stadt zum Stillstand, Sehler wurde am 11. September Augenzeuge der Ereignisse. Ein persönlicher Blick zurück.

Die Ausstellung in der Galerie Parker’s Box in Williamsburg, einem Teil des Bezirks Brooklyn, war ein sehr wichtiger Termin für mich. Die Eröffnung war für den 20. September geplant, ich reiste aber schon ein paar Wochen früher an, um in der verbleibenden Zeit noch einige Arbeiten fertigzustellen. Der Zeitdruck war groß, so dass ich meist bis tief in die Nacht an meinen Bildern arbeitete und morgens länger schlief.

In den Morgenstunden, wenn der Schlaf nicht mehr so tief ist, träumte ich oft sehr intensiv. Was ich jetzt erzähle, mag verrückt klingen, aber es war so: Ausgerechnet am Morgen des 11. September hatte ich einen Albtraum. Ich träumte, dass ein großes Passagierflugzeug auf Berlin stürzt. Es stürzte nicht in ein Hochhaus, aber auf die Häuser der Stadt. Ich war noch ganz in diesem Traum gefangen, als mein Galerist in den Raum kam, an meiner Schulter rüttelte und sagte: „Hey, Stefan, do you want to see history happen?“ Das war gegen kurz vor neun Uhr morgens, als gerade das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center geflogen war. Aber mein Galerist musste die Tragweite, die das alles annehmen würde, zu dem Zeitpunkt schon geahnt haben.

Alles – nur kein Zufall

Ich bin ihm dann auf das Dach des Hauses gefolgt. Das war so ein typisches Lofthouse, unten befand sich die Galerie, darüber Wohnungen – unter anderem die meines Galeristen. Vom Dach aus hatte man eine wunderbare Aussicht über den East River hinweg auf die Skyline von Manhattan. Als wir oben angekommen waren, crashte soeben die zweite Maschine in den zweiten Turm. Ich war immer noch schlaftrunken und einen Moment lang unsicher, ob ich vielleicht noch träumte. Dann lief ich sofort wieder nach unten in die Wohnung, um meine Videokamera zu holen. Merkwürdigerweise wollte ich sofort filmen. Es ist seltsam: Was man filmen kann, erscheint einem manchmal wirklicher als das, was man nur mit den eigenen Augen sieht. Also musste schnell die Kamera her. Der seltsame Zufall, dass ich etwas Ähnliches vorher geträumt hatte, war erst mal vergessen, der wurde mir erst viel später so richtig bewusst.

Nun standen wir dort mit meiner Videokamera auf dem Stativ und beobachteten das Geschehen. Uns war klar, dass dort ein irrsinniger Akt im Gange war, aber wir konnten in den ersten Minuten noch nicht einschätzen, ob das ein Unfall oder ein Angriff war. Obwohl, nach der zweiten Maschine war im Grunde schon klar, dass das kein Zufall sein konnte. Um uns herum versammelten sich immer mehr Bewohner des Hauses. Niemand kam noch auf die Idee, zur Arbeit zu gehen. Allen war klar, dass sich die Stadt im Ausnahmezustand befand.

Das Wetter war grandios, ein sonniger Septembermorgen, wie er mit seinem gleißend kristallinen Licht typisch ist für New York. Alles starrte auf diese zwei Türme, aus denen es rauchte. Dann mit einem Mal: Der erste Turm fiel in sich zusammen. Ein Bild wie inszeniert von einem Hollywoodregisseur. Da parallel unten im Haus die Fernseher liefen, wussten wir bereits, dass sich vorher schon Menschen aus den Türmen gestürzt hatten, auch wenn das von Williamsburg aus mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Man war entsetzt und zugleich fasziniert von diesem Bild, das muss ich zugeben. In den Türmen arbeiteten in Hochzeiten über 50.000 Menschen. Da drüben musste es Tausende von Toten gegeben haben. Aber der Anblick hatte etwas Ikonisches, es war sofort klar, dass dieses Bild ein historisches werden würde. Ein Bild, das sich bis in die tiefsten Schichten des Bewusstseins brannte. Zutiefst erschütternd, aber zugleich fast ästhetisch.

In Williamsburg wohnen viele Menschen, die ich zum linksliberalen Milieu zählen würde. Viele Künstler und Medienschaffende, die sich vom amerikanischen Mainstream gerne abgrenzen und mit den konservativen Kräften im Lande nichts am Hut haben. Dennoch, in dieser existenziell bedrohlichen Situation entstand sofort eine riesige Solidarität unter den Menschen. Über alle Milieugrenzen hinweg war klar: Jetzt müssen wir zusammenhalten. Jeder half, wo er konnte.

Ein extrem verdichtetes Amerikagefühl

Manchmal denke ich darüber nach, wie die Deutschen wohl auf solch einen Schlag reagiert hätten. Jedenfalls empfand ich die Atmosphäre als eine extreme Verdichtung eines Amerikagefühls, eines patriotischen Wir-Gefühls, das meiner Meinung nach Amerika auch so stark machen kann, hervorgerufen durch einen Angriff auf das Land. Diese Beschreibung für das Geschehene war auch unter den Fernsehkommentatoren und den Menschen auf der Straße rasch im Umlauf.

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11. September 2001, Manhattan: Der Staub der Türme bedeckte ganze Straßenzüge (Foto: Bert Spangemacher)

11. September 2001, Manhattan: Der Staub der Türme bedeckte ganze Straßenzüge

(Foto: Bert Spangemacher)

Der südliche Teil von Manhattan wurde weiträumig abgesperrt, das Telefonnetz brach erst einmal zusammen. Die Staub- und Rauchwolke von Ground Zero hatte sich mittlerweile bis zu uns nach Brooklyn ausgebreitet. Die ganze Stadt stand buchstäblich unter Schock, alle bewegten sich beinahe wie in Trance. Es stand außer Frage, dass hier etwas passierte, das die Welt verändern würde. Und leider dauerte es dann auch nur noch wenige Stunden, bis Politiker und Kommentatoren in den Medien von Krieg sprachen. Dieser Angriff auf Amerika müsse durch einen Gegenschlag vergolten werden, war die einhellige Meinung großer Teile der Öffentlichkeit.

Patriotismus und Solidarität hin oder her, zu diesem Thema bildeten sich in meinem Umfeld in Williamsburg dann doch verschiedene Lager. Viele empfanden solche Forderungen als Kriegstreiberei. Man versuchte, eine moderate Gegenposition zu bilden, und bezweifelte den Sinn eines Gegenschlags auf Afghanistan, von dem bald die Rede war. Man versuchte sich in einem ausgewogenen Solidarpatriotismus, statt in einen militaristischen Hurra-Patriotismus zu verfallen, der direkt zum Gegenangriff bläst.

Weitermachen!

Nun war ich ja nach New York gereist mit dem Plan, eine Ausstellung zu machen, meine Bilder zu zeigen. Und nun haute mir plötzlich dieses Wahnsinnsereignis dazwischen. Wie reagiert man in einer solchen Situation? Mir war sofort klar: Ich mache die Ausstellung jetzt trotzdem. Obwohl ich natürlich wusste, dass sie geschäftlich nicht besonders erfolgreich sein würde, beschloss ich, das durchzuziehen. Denn wie viele andere Leute dort habe ich aus einem gewissen Trotz gesagt: Weitermachen. Sich diesem Angriff nicht beugen. Jetzt erst recht. Auch um wieder zu einer Normalität zurückzufinden – damit das kulturelle Leben weitergeht und es nicht nur um Krieg geht.

Die nächsten Tage im Atelier verbrachte ich hustend, so sehr verpestete der Staub von Ground Zero die Luft. Manchmal kam es noch zu hysterischen Aufwallungen in der Bevölkerung. Mehrmals wurde wegen angeblicher Bombendrohungen Alarm geschlagen. Die Vermisstensuche zog sich über viele Tage hin. Riesige verbogene T-Träger wurden von Sattelschleppern durch die Straßenschluchten von Manhattan abtransportiert, die Szenen waren fast surrealistisch. Der ganze Bereich im Süden Manhattans blieb Sperrzone. Mich stellte das vor eine besondere Herausforderung, da mein Rahmenbauer seine Werkstatt dort unten hatte und ich nun schauen musste, dass ich meine Bilder rechtzeitig gerahmt bekam. Ich weiß nicht mehr genau, wie, aber irgendwie haben wir es dann noch geschafft.

Was mich später sehr freute, ist, dass noch Jahre danach Freunde in Williamsburg zu mir sagten: Wir fanden es toll, dass du damals nicht abgereist bist, sondern weitergemacht hast. Ich war seitdem noch einige Male in New York. Die Stadt hat sich sehr verändert. Es lässt sich schwer sagen, was davon mit dem 11. September zu tun hat. New York ist ängstlicher, ist sicherheitsbedachter geworden. Alles ist spürbar schwerer und nachdenklicher geworden. Aber die Leute sind auch politischer geworden.

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