Russland ist riesig und reich. Seine Bodenschätze scheinen unerschöpflich. Wenn in der Hauptstadt der Tag beginnt, geht es an der Ostgrenze zur Neige. Seine Einwohner finden sich in den unterschiedlichsten Klimazonen, haben im Lauf der Geschichte unglaubliche Fähigkeiten ausgebildet, auch unter widrigsten Bedingungen zu bestehen.

Diese Tatsachen machen in Russland Geografie zur Politik. Wie hält man ein Land von diesen Dimensionen zusammen, was hält es denn zusammen? Wie kann es sich ernähren, und wie soll es sich wirtschaftlich entwickeln? Wie geht es mit seinen Potenzialen um, was macht es aus seinen Nachbarschaften?

Wenn man sich den Menschen und ihrem Alltag nähert, wird klar, dass auch hier ein Reichtum zu entdecken ist. Man trifft immer wieder auf starke Persönlichkeiten, die es gewohnt sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – wie beispielsweise die Bewohner von Norilsk; der geniale Mathematiker, der eine Million Dollar Preisgeld ablehnt; der mutige Journalist, der sich mit den Mächtigen anlegt; die nachdenkliche Autorin oder aber auch die Bewohner einer Kommunalka. Autoritäres Herrschaftsstreben trifft auf engagierten oder auch versteckten Widerstand, strenge Lebensentwürfe auf den Ruf nach Vielfalt, verschwenderische Dekadenz auf das Ringen um Nachhaltigkeit. Dieses System ist kompromisslos gierig und fordert Opfer, von ihm geht aber auch immer wieder eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wer das Spiel mitspielt, kann viel gewinnen, doch der Preis ist oft die eigene Integrität.

Im Moment ist die herrschende Politik gefangen in der doppelten Versuchung, sich nach außen imperial-aggressiv neu zu bestimmen und nach innen autoritär mit Gewalt und Propaganda abzusichern. Das alles auf Grundlage eines verführerischen, aber kaum nachhaltigen Wirtschaftsmodells, des Extraktionismus. Fast alles hängt ab von der massiven Ausbeutung der Bodenschätze und ihrem globalen Vertrieb. Damit sind in den letzten Jahren gigantische Gewinne gemacht worden und in das Land und in seine Oligarchien geflossen. Aber der Preis ist hoch. Riesige Umweltprobleme, kaum Ausweichmöglichkeiten bei fallenden Rohstoffpreisen, eine unterdrückte und wenig entwickelte Zivilgesellschaft, Unfrieden mit den Nachbarn. So macht die herrschende Kaste Russland arm im Verhältnis zu seinen Potenzialen.

Deutschland, aber auch Europa verbindet mit Russland eine lange und zum Teil furchtbare Geschichte. Für das Projekt der Europäischen Union, das sich gerade selbst in einer Krise befindet, hat das Verhältnis zu Russland strategische Bedeutung. Ohne Russland geht es nicht. Wer eine solche Macht ignoriert oder unterschätzt, ruft sie auf den Plan. Gegen Russland wird es sehr riskant und braucht Kräfte, die woanders fehlen, wenn sie sich denn überhaupt dauerhaft mobilisieren lassen. Mit Russland gemeinsam Perspektiven zu entwickeln wäre besser. Aber ob das in naher Zukunft realistisch ist, liegt auch in der Hand der Russen selbst.