Umringt von VIPs und Journalisten steht Wacken-Chef Thomas Jensen im Backstagebereich und grillt Thüringer. Seine Ehrengäste heißen Hing, Pich, Vichey und Theara. Drei von ihnen wuchsen als Waisenkinder in den Slums der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh auf. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie mit dem Sammeln von Müll. Während der Audienz mit dem langhaarigen Metal-Patriarchen lächeln sie glücklich in die Kameras. Dass ausgerechnet ihre Band Doch Chkae („Dudsch Gai“ ausgesprochen), die nie zuvor auf einer großen Bühne stand, dieses Jahr beim größten Heavy-Metal-Festival der Welt zu den Acts der Stunde zählt, ist eine Geschichte wie aus dem Märchenbuch – eine Geschichte, die fast ein böses Ende genommen hätte.
Eigentlich hätten Doch Chkae schon im vergangenen Jahr beim jährlich 80.000 Besucher zählenden Metal-Mekka in Norddeutschland auftreten sollen. Die Einladung stand, alle Dokumente waren fristgerecht eingereicht worden. Da die Jugendlichen aber weder volle Bankkonten noch Immobilen als Garantie für ihre „Rückkehrbereitschaft“ vorweisen konnten, verweigerten die deutschen Behörden ihnen im letzten Moment die Visa. „Die Begründung, dass wir zu arm sind, hat mich wirklich deprimiert“, sagt der 20-jährige Sänger Theara. Die Hoffnung, mit der in Kambodscha so gut wie unbekannten Musik einen Weg aus der Armut zu finden, rückte wieder in weite Ferne.
Auch das Bandgefüge zeigte Risse. Gitarrist Vichey, der kreative Kopf, begann für andere Gruppen zu spielen, deren Musik ihm nichts bedeutete. Theara, der schon im Heim manisch-depressive Phasen hatte, kam immer seltener zu Proben und hing wieder mit alten Freunden ab, die auf der Straße Crystal Meth verkaufen. Dann kam Timon Seibel. Der 39-jährige Sozialarbeiter aus der Schweiz betreute die Jungs in einem NGO-Kinderheim in Phnom Penh und ist seitdem so etwas wie ihr Manager geworden. Zum Krisenmeeting lud er auch Vanntin Hoeurn ein, einen der ersten Metal-Musiker des Landes. Der Veteran machte ihnen klar, dass die Aussicht, vielleicht doch noch eines Tages auf dem Wacken aufzutreten, eine einmalige Chance in ihrem Leben war. „Ihr vertretet nicht nur unsere Szene, ihr vertretet das ganze Land!“
Kein Hundeleben in Hamburg
Seine Worte fruchteten: Die Band raufte sich zusammen, spielte sogar ein erstes Auslandskonzert in Vietnam. Theara zog zu einer Gastfamilie in einen Vorort von Phnom Penh, abseits vom kriminellen Milieu, in das ein junger Mann ohne Perspektive hier schnell abrutschen kann. Dann, im Juni 2019, nur knapp einen Monat vor Festivalbeginn, plötzlich die gute Nachricht: Doch Chkae dürfen zum 30-jährigen Wacken-Jubiläum nach Deutschland einreisen. Treibende Kraft hinter der Zusage war Miriam Hensel. Die Hamburgerin arbeitet seit 16 Jahren für das Festival und hat bei Projekten wie den global stattfindenden „Metal-Battles“ einige Erfahrung mit vertrackter Visa-Bürokratie gesammelt.
Ende Juli treffen Doch Chkae in Hamburg ein. Alles wirkt neu. Die Parks sind sauber. Die Autos poliert. Statt der räudigen Straßenköter von Phnom Penh, denen die Band ihren Namen „Hundeleben“ verdankt, begegnen ihnen hier nur shampooniert wirkende Prachtexemplare. „Die lassen sogar die Tauben am Straßenrand in Ruhe“, wundert sich der erst 16-jährige Pich, der bei Doch Chkae Bass spielt. Die Band hat T-Shirts mit ihrem Logo mitgebracht, die Theara in der Handarbeitswerkstatt einer NGO selbst genäht hat.
Zwischen den Auftritten ihrer Lieblingskünstler, die sie bislang nur auf YouTube sehen konnten, werden sie selbst immer wieder von Besuchern angesprochen, die durch die Medien auf ihre Geschichte aufmerksam geworden sind. „Mein Herz schlägt die ganze Zeit. Ich weiß gar nicht, was ich auf der Bühne sagen soll. Dieser Auftritt kann unser ganzes Leben verändern“, sagt Vichey.
Zur Peaktime um zehn Uhr sollen Doch Chkae auf der „Wasteland Stage“ spielen, einer postapokalyptisch dekorierten Rampe, die mit ihren Wellblechwänden und gestapelten Autoreifen manchen Ecken ihrer Heimatstadt ähnelt. In Kambodscha treten Doch Chkae selten vor mehr als 20 Menschen auf. Zu ihrer Wacken-Show kommen gut 2.000. Das erste „Hello Wacken!“ geht Theara nur zaghaft über die Lippen. Doch schon als der erste Applaus aufbrandet, löst sich die tagelang angestaute Spannung. Die Wut der von der Gesellschaft Ausgestoßenen, aber auch die Freude, endlich hier spielen zu dürfen, überträgt sich auf die Menge. Theara brüllt sich die Seele aus dem Leib, Bassist Pich tänzelt breitbeinig von einem Bein auf das andere. Drummer Hing wirft seine Sticks in die Menge, obwohl er sich ein zweites Paar nicht leisten kann. „This is our dream, thank you so much!!!“, ruft Theara, geblendet von Scheinwerfern und schweißüberströmt.
700 Shares zuhause in Kambodscha
Nach dem letzten Song lässt sich die Band noch mit der kambodschanischen Flagge fotografieren, die jubelnde Menschenmasse im Hintergrund. Das Bild geht noch in derselben Nacht in ihrer Heimat viral. Immer wieder checken die Jungs ihre Handys: über 700 Shares! Ein Rockstar-Moment. „Wir wussten nicht, ob überhaupt jemand kommt“, sagt Theara. „Und dann waren es so viele, und sie haben immer wieder ‚Zugabe, Zugabe‘ gerufen. Das werde ich nie vergessen!“
Als die Band am Sonntag ihre Zelte abbricht, regnet es. „Ein Teil von uns will hierbleiben. Wenn wir zurückgehen, sind wir wieder ganz normale Leute, die keiner kennt“, sagt Vichey. Auch Jobs und Geld haben sie in Kambodscha weiterhin nicht. Dafür einen Plan: Zusammen mit der Wacken Foundation, die seit 2008 Nachwuchskünstler fördert, und der NGO Moms Against Poverty, deren Schule die Bandmitglieder besuchten, wollen sie in Phnom Penh ein Musikzentrum aufziehen. „Es wird die erste Musikschule in Kambodscha sein, bei der auch Metal auf dem Programm steht“, sagt Vichey stolz. „Wir werden dort unser erstes Album aufnehmen, aber auch selbst unterrichten.“ Daneben soll es Buchhaltungs- und Managementworkshops geben. Ein Spendenaufruf an die globale Metal-Familie ist bereits in Arbeit.
„Wir müssen so oder so zurück. Nicht dass wieder jemand denkt, wir wollen uns hier in Deutschland verstecken“, sagt Theara, der auf seinem gepackten Koffer sitzt und beobachtet, wie einige Kinder aus der Gegend den Festivalmüll einsammeln und auf schwankende Fahrräder packen. Nach dem Mittagessen, während die anderen Bands auf das Shuttle zum Flughafen warten, machen sich die vier selbst auf den Weg, durchkämmen den Acker, staunen, was für gute Stücke die Leute hier zurücklassen. Einiges sammeln sie ein. Timon Seibel lacht: „Wir sind ohne Zelte und Schlafsäcke angereist. Nun sind wir für das nächste Mal komplett ausgerüstet.“
Fotos: Dominik Probst