„Wir haben ein Justizsystem geschaffen, in dem man besser behandelt wird, wenn man reich und schuldig ist als arm und unschuldig. Wohlstand, nicht Wahrheit liegt etlichen Urteilen zu Grunde. Deshalb werden so viele arme Menschen unschuldig verurteilt.“ Zwei Sätze, die man so ähnlich bereits zu kennen meint. Sie klingen wie das Schlussplädoyer eines redegewandten Anwalts in einem Hollywood-Justizdrama. Der Mann, der hier mit dem amerikanischen Justizsystem so hart ins Gericht geht, ist allerdings echt. Bryan Stevenson heißt er, und er hat als Anwalt für Strafrecht zahlreiche Plädoyers gehalten – vor ehrgeizigen Staatsanwälten, vor rassistischen Strafrichtern, vor voreingenommenen Geschworenen.

Die ebenso erfahrungsgesättigten wie niederschmetternden Einblicke, die der 1959 geborene afroamerikanische Bürgerrechtler und Jura-Professor in seinem US-Bestseller „Ohne Gnade“ (orig.: „Just Mercy. A Story of Justice and Redemption“) mit den Lesern teilt, wären freilich längst nicht alle hollywoodtauglich: Viele der beschriebenen Fälle dieser politisch ambitionierten Arbeitsbiografie wären zu düster, zu schmuddelig. Die Menschen, für die sich Stevenson als Gründer und Geschäftsführer der „Equal Justice Initiative“ (EJI) einsetzt, sind wenig glamourös. Menschen ohne Lobby, fast immer bitterarm und sehr häufig afroamerikanischer Abstammung. Geraten sie in die Mühlen der Justiz, kann das übel für sie ausgehen.

Seit 1989 engagieren sich der in Harvard ausgebildete Stevenson und sein Team für lebenslänglich Verurteilte ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung sowie für als Mörder verurteilte Todeskandidaten. Sie vertreten Menschen, die keinen Rechtsbeistand gestellt bekommen oder nur pro forma: durch schlecht bezahlte und entsprechend kaum vorbereitete Pflichtverteidiger. Die „Equal Justice Initiative“ rollt Fälle neu auf, nicht zuletzt, um unschuldig Verurteilte vor der Todesstrafe zu bewahren. In den 26 Jahren ihres Bestehens hat sie allein in Alabama mehr als 100 Hinrichtungen verhindert.

Stevensons zähester Kampf

Dass einem sogar die Mindestansprüche auf formale Gerechtigkeit versagt werden können, davon handelt der berühmte, von Stevenson in den 90er-Jahren ausgefochtene Kampf um die Freilassung von Walter McMillian. Dieser für Nicht-US-Amerikaner ziemlich unglaublich klingende Fall um einen jahrelang unschuldig in seiner 1,50 mal 2,50 Meter großen Todeszelle sitzenden Holzhändler aus Alabama bildet den großen erzählerischen Rahmen des Buches. Da Stevenson, der einen Hang zum Melodramatischen hat, seine Leserschaft nicht nur aufzuklären, sondern auch zu fesseln sucht, unterbricht er den McMillian-Strang durch andere Fallgeschichten. Er zieht ihn aber auch mit 200 Seiten unnötig in die Länge.

In der Kleinstadt Monroeville wird eine junge weiße Frau ermordet aufgefunden. Nach einer Affäre mit einer verheirateten weißen Frau erscheint der Afroamerikaner McMillian als nachgerade idealtypischer Täter. Rach- und Straflust der Bewohner des Südstaaten-Städtchens sind enorm, schnell präsentiert die ansässige Polizei ihren Hauptverdächtigen. Staatsanwaltschaft, Richter und Jury unterschlagen, manipulieren oder ignorieren gleich in mehreren Gerichtsverfahren die Beweise für McMillians Unschuld. Es ist Stevensons zähester Kampf, aber am Ende ist McMillian frei.

So viel Glück im Unglück hatten andere nicht. „Wir haben Hunderte Menschen erschossen, erhängt, vergast, vergiftet oder auf dem elektrischen Stuhl getötet, um die von unserem Rechtsstaat gebilligte Todesstrafe zu vollstrecken“, schreibt Stevenson. Und: „Einige Bundesstaaten haben kein Jugendstrafrecht und machen vor Gericht keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen; wir haben eine Viertelmillion Kinder, einige davon unter zwölf Jahren, in Erwachsenengefängnisse gesperrt, wo sie lange Haftstrafen verbüßen.“

Der US-amerikanischen Gesellschaft mangele es an Gnade, befindet Stevenson. Sein Buch geht der Frage nach, „mit welcher Leichtfertigkeit wir in diesem Land Menschen verurteilen und welches Unrecht wir begehen, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft mit Angst, Zorn und Distanz begegnen“. Die Fakten wiegen schwer: Nach Berechnungen der „Prison Policy Initiative“ saßen Ende 2011 2,5 Millionen Amerikaner hinter Gittern; auf einen weißen Insassen entfielen dabei 2,5 Hispanics und 5,8 Afroamerikaner.

In vielen Bundesstaaten wurde die vorzeitige Haftentlassung längst abgeschafft, in 24 von 50 Bundesstaaten landet man nach sogenannnten „Three Strikes“-Gesetzen nach drei Verurteilungen wegen einer Straftat oft lange im Gefängnis – selbst wenn es sich bei der letzten Verfehlung um ein Kleindelikt wie einfachen Ladendiebstahl handelt. Wiedereingliederungsmaßnahmen gibt es kaum noch, derweil der amerikanische Kampf gegen die Drogen dazu geführt hat, dass mehr als eine halbe Million Menschen wegen Drogenvergehen in Gefängnissen sitzen, „während es“, so Stevenson, „1980 gerade einmal 41.000 waren“. Als Ursachen für all das und vieles mehr nennt Stevenson „Armut, Rassismus, Schuldvermutung und eine ganze Reihe anderer gesellschaftlicher, struktureller und politischer Dynamiken“.

Wie konnte sich die Null-Toleranz-Politik durchsetzen?

Es hätte dem Buch sicher gutgetan, wenn sich sein Autor mit ebendiesen Dynamiken eingehender beschäftigt hätte. Etwa damit, inwiefern eine rigorose Bestrafungspolitik in den USA Wahlerfolge sichert. Oder damit, wie sich eine derartige Null-Toleranz-Politik mit immer engmaschiger geflochtenen Strafverfolgungsgesetzen seit den späten 80er-Jahren überhaupt durchsetzen konnte. Der Anstieg der „klassischen“ Kriminalität selbst ist jedenfalls, wie man aus zahlreichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen weiß, ein Mythos: Tatsächlich ist die Zahl der Verbrechen in den vergangenen drei Jahrzehnten ungefähr konstant geblieben, in den letzten zehn Jahren ging sie sogar etwas zurück.

Wie kam es also zu dieser rigorosen Bestrafungspolitik? Der französische Soziologe Loïc Wacquant hat eine Theorie. Er zeigt in seiner Studie „Bestrafen der Armen“ (2009), wie das Strafrecht die Gefängnisse bald zum Platzen brachte und in der Folge eine boomende Gefängnisindustrie entstehen ließ, die ihresgleichen auf der Welt sucht. Wacquant interpretiert die amerikanische Politik als Reaktion auf soziale Unsicherheit und als monströse Konsequenz neoliberalen Regierens: Derselbe Staat, der am Abbau seiner Macht zugunsten der Wirtschaft fleißig mitarbeitet, vermehrt auf der anderen Seite seine Machtfülle, indem er Teile der Bevölkerung mit harten Strafen zu zähmen, zu gängeln und wegzusperren versucht.

Mag sein, dass diese Interpretation einiges unterschlägt. Doch auf dem Weg zu ihr gibt es bei Wacquant jede Menge klug aufbereitete Fakten, Statistiken, unterschiedliche erklärende, mithin theoretische Zugänge zum Material. Bei Stevenson findet man nahezu nichts dergleichen. Die spannend aufbereiteten Fallgeschichten machen einen zwar mitunter sprachlos – sie erklären aber, zumal aus sozialwissenschaftlicher Sicht, eher wenig.

Bryan Stevenson: „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“. Piper, München 2015, 416 Seiten, 20 Euro