Doch ganz klar was Sex ist, oder? Ein Mann, eine Frau, danach Kinder. Und Geschlecht? Männer sind diejenigen mit Penis, Frauen die mit Vagina? Warum das alles doch nicht so einfach ist, und was Sex mit Geschlecht zu tun hat, erklärt der Biologe Heinz-Jürgen Voß im Interview. Voß hat sein Diplom in Biologie gemacht und danach zwei Jahre Philosophie, Sozialpolitik und Geschlechterforschung studiert. Bei der Beschäftigung mit dem Geschlecht waren ihm einige Erklärungen in der Biologie zu einfach. Deswegen hinterfragt er in seiner Dissertation biologische Theorien zum Geschlecht. Dabei stellt er die grundlegende Auffassung in Frage, dass es zwei biologische Geschlechter gebe. Außerdem glaubt er nicht, dass es biologische Gründe dafür gibt, mit welchen Menschen man Sex haben will. Voß stellt damit in Frage, was für die meisten als selbstverständlich gilt.

Der Begriff Sex taucht in unserem Alltag ständig auf und ist ein sehr vieldeutiger Begriff. Was kann Sex alles bedeuten?

Im Wesentlichen hat der Begriff Sex zwei Bedeutungen: Einerseits steht er für Sexualität zwischen Personen und bezeichnet verschiedene Begehrensweisen wie Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität, Asexualität, usw. Er bezieht sich also auf die Intimität unter Menschen. Andererseits wird der Begriff in Anlehnung an das Englische sex auch für biologisches Geschlecht verwendet, also für gesellschaftlich vereinbarte, körperliche Merkmale anhand derer Menschen in Männer und Frauen eingeteilt werden.

Sie beschäftigen sich beruflich als Biologe und Soziologe mit Sex. Wie taucht dieser Begriff in ihrer Forschung auf?

Ich betrachte zum Beispiel wie sich der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität verändert hat – seit der Antike bis heute. Dabei zeigt sich, dass es für Menschen erst in der Zeit der europäischen Moderne wichtig wurde, sich über ihr sexuelles Begehren zu definieren. Ob jemand gleichgeschlechtlichen oder gegengeschlechtlichen Sex hatte, spielte keine so große Rolle wie heute. Heute definieren sich Menschen als "homosexuell" oder "heterosexuell" – das ist historisch neu. Wichtig erscheint mir auch, nicht automatisch davon auszugehen, dass wir heterosexuell sind und uns Sex mit anderen Personen gar nicht vorstellen können. Denn Sexualität kann ganz unabhängig vom Geschlecht noch sehr viel mehr oder auch ganz anders sein als ein heterosexueller, penetrierender Akt.

Und wie forschen Sie zum biologischem Geschlecht?

In meiner Dissertation über medizinisch-biologische Geschlechterbetrachtungen zeige ich, dass nicht nur soziale Geschlechterrollen, sondern auch biologisches Geschlecht und biologische Theorien immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen entstehen. Deswegen schaue ich mir die Bestimmung von biologischem Geschlecht und deren zeitliche Entwicklung an. Dabei zeigt sich, dass es stets intensive Diskussionen darum gegeben hat, wie gleich oder verschieden zwei Geschlechter sind und ob sich diese zwei Geschlechter überhaupt eindeutig unterscheiden lassen.

Welche Möglichkeiten gibt es heute das biologische Geschlecht eines Menschen zu bestimmen?

Da gibt es vielfältige Möglichkeiten. Einige meinen damit das Erscheinungsbild äußerer Genitalien, einige innere Genitalien wie Hoden und Eierstöcke, wiederum andere den Chromosomen- oder Hormonbestand. Egal auf welcher Ebene wir schauen, zeigt sich mittlerweile, dass viele Faktoren in die Ausbildung des Genitaltraktes involviert sind. Genitalien entwickeln sich vielgestaltig und individuell verschieden. X- oder Y-Chromosom bestimmen nicht, ob wir Penis oder Vagina bekommen.

Auch deswegen plädieren Sie für die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Männern und Frauen und argumentieren, dass biologisches Geschlecht nicht in zwei Ausprägungen auftritt. Vielmehr sollte Geschlecht als ein Kontinuum betrachtet werden, das durch ein Zusammenwirken vieler Faktoren bestimmt wird. Im Alltag aber hat man scheinbar eindeutig mit Frauen oder Männern zu tun. Spricht das nicht gegen ihre These?

Die Einteilung in Männer und Frauen hat mit biologischen Eigenschaften wenig zu tun. Viele dieser Eigenschaften sind im Alltag gar nicht sichtbar. Genitalien zum Beispiel sind die meiste Zeit verdeckt. Vielmehr lernen wir von klein auf, Personen anhand ihrer Kleidung, Verhaltensweisen oder ihrer Körpersprache als Männer oder Frauen zu identifizieren. Studien zeigen, dass Erwachsene schon auf Neugeborene ganz unterschiedlich reagieren – je nachdem, ob ihnen das Kind als Mädchen oder Junge vorgestellt wird. Wird das Baby als Junge vorgestellt, erscheint es stark und frech. Wird ihnen dasselbe Baby als Mädchen vorgestellt, erkennen sie es als zart und hübsch. Das zeigt, wie unterschiedlich mit Mädchen und Jungen umgegangen wird. Wir lernen vom ersten Tag an was typisch weiblich und typisch männlich ist.

Aber verändert diese unterschiedliche Behandlung je nach Geschlecht wirklich auch den Körper?

Ja, das ist durch Studien ausreichend belegt. Körperliche Merkmale wie Muskulatur werden durch unsere Sozialisation und Lebensweise geformt. Der als typisch weiblich oder typisch männlich betrachtete Körper zeigt sich bei uns keineswegs so oft, wie zuweilen angenommen.

Meinen Sie es ist gesellschaftliche Prägung, dass sich eine Frau zu einer zarten und ein Mann zu einer starken Person entwickelt?

Genau. Dazu gibt es sehr gute Beispiele aus dem Sport: Die Leistungen im Marathonlauf haben sich stark verändert. Während in den 1960er Jahren der Unterschied der Weltbestzeiten zwischen Männern und Frauen bei circa einer Stunde lag, hat er sich mittlerweile auf zehn Minuten reduziert. Hier wird klar welchen Einfluss Trainingsbedingungen, Teilnahmeerlaubnisse und Prestige für Männer und Frauen im Spitzensport haben und wie wenig letztlich durch das Geschlecht vorgegeben ist.

Sie wären also dafür, die Geschlechtertrennung im Sport ganz aufzuheben?

Ja, eine Unterscheidung nach Geschlecht ist meiner Meinung nach nicht tragbar, sondern sie könnte je nach Sportart zum Beispiel an Gewichtsklasse oder Größe festgemacht werden, wie es zum Beispiel im Ringen der Fall ist.

Aber es gibt doch eindeutige körperliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen zum Beispiel in Bezug auf Größe, Gewicht und Körperfettanteil?

Gruppierbar gibt es diese Unterschiede nach Körpergröße, Fett und Muskulatur nicht. Vielmehr gibt es große Varianzen innerhalb der Gruppen selbst. Es gibt genügend sehr starke Frauen, etwa gerade eben bei den Olympischen Spielen oder den Paralympics, und schwache Männer. Zeigen sich beispielsweise bezogen auf die Häufigkeit von viel Muskeln Unterschiede zwischen den Geschlechtern, ist die Frage nach den Ursachen zu stellen. Und hier wurde etwa von der Biologin Anne Fausto-Sterling klar gezeigt, wie sie als Folge der Sozialisation und nicht "natürlich" entstehen.

Auch biologische Studien weisen sehr häufig Unterschiede zwischen den Geschlechtern nach.

Bei einem genauen Blick auf die biologischen Studien selbst stimmt das keineswegs. Oft zeigen sich auch Gleichheiten. Werden Differenzen ermittelt, liegt das oft schon daran, dass die Differenz bereits als Forschungsfrage vorausgesetzt wird. Schon vor dem Versuch werden die Individuen in weiblich und männlich eingeteilt. Und zwischen diesen beiden Gruppen wird dann nach Differenzen gesucht. Somit ist schon vom Forschungsdesign her gar kein anderes Ergebnis möglich, als Differenzen zwischen Frauen und Männern festzustellen. Dabei zeigen sich überall, also beispielsweise bei Hormon- und bei Gehirnuntersuchungen meist viel größere Unterschiede innerhalb einer Gruppe, also etwa innerhalb der Gruppe "Männer".

Aber ist es nicht so, dass Frauen zum Beispiel Kinder bekommen können und Männer nicht?

Gegen dieses beliebte Argument der Gebärfähigkeit von Frauen sprechen mehrere Punkte. Fortpflanzung ist zwar zur Arterhaltung des Menschen nötig, aber deshalb muss nicht jede oder jeder Einzelne auf klassischem Weg Kinder bekommen können. Es hat sich gezeigt, dass Fortpflanzungsfähigkeit beim Menschen nicht so verbreitet ist, wie oft angenommen. So hat das Bundesland Sachsen die Erstattungsfähigkeit von Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung wieder eingeführt, weil Studien ergaben, dass mindestens 15 Prozent der heterosexuellen, fortpflanzungswilligen Paare über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage waren, Kinder zu bekommen. Wäre Fortpflanzung also wichtig zur Festlegung des biologischen Geschlechts, wären diese 15 Prozent nicht typisch männlich oder weiblich. Über diese organisch orientierte Frage hinaus ist in die Analyse auch der Wunsch von Menschen zu berücksichtigen, Kinder zu haben oder nicht.

Welche Reaktionen bekommen sie aus der Wissenschaftscommunity mit ihrer Forschung? Besonders in der Biologie stellen Ihre Ergebnisse doch eher eine neue Sicht der Dinge dar und die Mehrheitsmeinung in Frage, oder?

In Fachkreisen schlägt man etwa seit den neunziger Jahren solche Sichtweisen vor, wie ich Sie in meinen Forschungen formuliere. Man ist einfach - egal in welchem Bereich - auf Komplexität gestoßen. Genetisch werden beispielsweise heute etwa 1000 Gene als in die Ausbildung des Genitaltraktes involviert beschrieben - und nur die wenigsten davon zeigen sich regelmäßig auf dem X- oder dem Y-Chromosom. Stattdessen finden sie sich breit im Genom verteilt. Junge Forschende nehmen meine Beschreibungen der Komplexität als Selbstverständlichkeit. Es gibt aber auch ältere, die versuchen, an der "unbeschränkten Herrschaft" von X- und Y-Chromosom festzuhalten.

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 Heinz-Jürgen Voss (Foto:  privat)

Heinz-Jürgen Voss

(Foto: privat)

Dr. Heinz-Jürgen Voß hat Diplom-Biologie in Dresden und Leipzig studiert und dabei den Schwerpunkt auf Genetik gelegt. Anschließend studierte er zusätzlich zwei Jahre Philosophie, Sozialpolitik und Geschlechterforschung, bevor er seine vieldiskutierte Dissertation "Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive" (Bielefeld: Transcript) veröffentlichte. Aktuell erschienen ist das Buch "Intersexualität – Intersex. Eine Intervention" (Münster: Unrast), das sich der Debatte um Intersexualität nach der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität zuwendet.

Interview: Liz Weidinger