„Das Ziel der Heimerziehung ist es, den Zögling zur christlichen Persönlichkeit zu bilden, indem wir ihn zum Glauben erziehen und den ganzen Menschen mit seinen natürlichen Anlagen für den Dienst der Liebe emporbilden.“
So stand es in einem Leitfaden der Diakonie Freistatt geschrieben, einer Einrichtung für aufsässige Jugendliche unweit der niedersächsischen Kreisstadt Diepholz. Die Realität sah allerdings häufig anders aus. Statt christlicher Unterweisung waren Gewalt und Erniedrigung fest im Heimalltag verankert. Erfahrungen, wie sie nicht wenige der 800.000 Mädchen und Jungen machten, die von Ende der 1940er- bis Mitte der 1970er-Jahre in rund 3.000 kirchlichen und staatlichen Fürsorgeanstalten in Deutschland lebten.
Marc Brummund greift dieses oft verdrängte Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte in seinem ersten Kinospielfilm auf und konfrontiert den Zuschauer mit einem erschütternden Leidensweg. Das von wahren Ereignissen inspirierte Drama „Freistatt“ zeigt unmissverständlich die Schrecken der sogenannten „Schwarzen Pädagogik“ auf und verkommt nie zu einem billigen Thesenwerk.
Die Handlung setzt ein im Jahr 1968. Einer gesellschaftlichen Umbruchszeit. Alte Gewissheiten stehen auf dem Prüfstand. Und die Elterngeneration dient vielen nicht mehr als Vorbild, sondern wird kritisch hinterfragt, zumindest in den kulturellen Zentren des Landes. In der niedersächsischen Provinz hingegen ist vom Aufbruchsdenken nur wenig zu spüren. Klare Familienhierarchien bestimmen das Bild, und wer aus dem Rahmen fällt, gerät schnell ins Abseits. So auch der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann), der seinem Stiefvater ein Dorn im Auge ist und daher in die Fürsorgeeinrichtung Freistatt abgeschoben wird.
Ein abgelegener Ort, den der Film ästhetisch differenziert einfängt. Einerseits gibt es sonnendurchflutete Bilder, die den im Abspann gezeigten Fotografien aus der damaligen Zeit nachempfunden sind. Doch je weiter wir mit Wolfgang hinter die Fassade der Jugendanstalt blicken, desto häufiger bekommen die Einstellungen einen rauen, dreckigen Charakter, gleicht sich die Farbstimmung dem umgebenden Moor an. In diesem unwirtlichen Gefängnisraum scheint es nur ein Ziel zu geben: die gnadenlose Brechung der jugendlichen Außenseiter.
Durchgesetzt wird sie mit militärischen Methoden. Beim Essen dürfen die Jungen erst dann sprechen, wenn sie von den Erziehern die Erlaubnis erhalten. Mahlzeiten werden bei individuellem Fehlverhalten für alle gekürzt oder gestrichen, so dass sich die Bewohner gegenseitig brutal disziplinieren. Und zur Zwangsarbeit im Moor marschieren die Insassen in soldatischem Gleichschritt.
Dumpfer Autoritätsglaube und systematische Misshandlung – Grundmechanismen des Faschismus – setzen sich unter dem Deckmantel christlicher Fürsorge fort. Konkret fassbar wird diese Kontinuität, wenn die Jugendlichen das Moorsoldatenlied anstimmen, das auf die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor zurückgeht. „Freistatt“ zeichnet so ein umfassendes Klima der Angst und Unterdrückung – von dem sich Wolfgang zunächst nicht einschüchtern lässt, was weitere Züchtigungsmaßnahmen zur Folge hat. Ohne Scheu vor drastischen Bildern drehen Brummund und Koautorin Nicole Armbruster die Abwärtsspirale weiter und ziehen den Betrachter konsequent mit.
Dass ihr Drama dabei eine enorme emotionale Wucht entfaltet, liegt vor allem an der kraftvollen Darbietung Louis Hofmanns, die überzeugend zwischen wilder Rebellion und tiefer Verzweiflung schwankt. Geradezu beängstigend ist Alexander Held in der Rolle des Heimleiters, der väterliche Zuneigung und unverhohlenen Sadismus auf perfide Weise miteinander verbindet. Eine beklemmende Wirkung stellt sich auch deshalb ein, weil die Macher an den weitgehend erhaltenen Originalschauplätzen drehen konnten. Mit tatkräftiger Unterstützung der heutigen Diakonie Freistatt, die im Gegensatz zu vielen anderen Erziehungsheimen einen offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit betreibt.