Saint-Marc-sur-Mer, 1953: Der bretonische Badeort erlebt seinen alljährlichen Ansturm. Auf einen Schlag – der französische Ferienbeginn – kommen Urlauber von überall her, beziehen ihre Strandkörbe, kleiden sich um. Kinder tollen herum, ärgern die Erwachsenen, die doch nichts weiter wollen als ihre Ruhe. Doch Ruhe sucht man in "Die Ferien des Monsieur Hulot", einem Film praktisch ohne jede relevante Handlung, vergeblich.

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cms-image-000042420.jpg (Foto: © picture alliance/Universum Home Entertainment)
(Foto: © picture alliance/Universum Home Entertainment)

Komische Menschen mit komischen Ritualen

Das erste irritierende Moment in Jacques Tatis unsterblichem Klassiker ist der Ton. Tati, in der Tradition von Charlie Chaplin und Buster Keaton stehend, verwendet ihn nach Belieben, setzt seine eigenen Akzente, verfügt über das Medium wie ein pittoresker Genremaler über das eigene Bild. Das Klappern der Tür zum Hotelrestaurant ist lauter als jedes Gespräch. Von allen Seiten dringen Geräusche heran: Vogelgezwitscher, das Knattern der Autos, das Plopp eines Tennisballs. Es wird durchaus gesprochen in diesem Film, der sich der visuellen Autarkie des Stummfilms verpflichtet fühlt, aber Worte sind für den Regisseur ohne Belang. Sie verhallen im Wind, der unablässig bläst und das noch tun wird, wenn die vielen Gäste mit ihren albernen Freudenschreien, Beschwerden und Ermahnungen längst wieder fort sind.

Mit lautstarkem Knattern nähert sich auch schon das zweite Moment der Irritation: Monsieur Hulot, ein alleinstehender Herr zweifelhaften Alters, kommt in einem Amilcar, Baujahr 1924. Die altertümliche Kiste fährt so seltsam, wie ihr Besitzer läuft. Mit staksigem Gang, fortan Markenzeichen des komischen Darstellers Jacques Tati, mischt sich Hulot unters Volk. Selten bringt er etwas zu Ende, fast immer steht er im Weg. Und bringt eben so Bewegung in die alljährliche Routine, die erst durch ihn ihre Lächerlichkeit offenbart und damit auch die absurde Komik menschlicher Existenz.

Urlaub und Alltag – kein Unterschied für Monsieur Hulot

Hulots Versuche, Urlaub zu machen, führen regelmäßig ins Chaos. Mit einem kaum seetüchtigen Faltboot erschreckt er die Badegäste. Sein Aufschlag beim Tennis zeigt ihn als blutigen Amateur, doch er gewinnt damit jedes Spiel. Als er im Restaurant nach einem Ping-Pong-Ball sucht, bringt er gleich zwei Kartenrunden durcheinander – ohne es zu merken. Es hilft zum Verständnis dieser Figur, dass Tati in seinen nächsten Filmen "Mon Oncle" (1958) und "Playtime" (1967) – sehr unterschiedliche Filme, aber jeder für sich eine großartige Kritik der Moderne und des französischen Alltagslebens – genau so auftrat. Zwischen Urlaub und Alltag, man ahnt es, besteht für Hulot kein Unterschied. Der Zwang zu zweckgerichtetem Handeln, und sei es die fachgerechte Organisation der eigenen Freizeit, überfordert ihn. Oder besser gesagt, er vermag sich ihm nicht zu unterwerfen. Denn in vielem ein Stellvertreter seines Publikums, dem seine Nöte keineswegs fremd sind, bleibt er doch ein ureigener Charakter, der unser modernes Selbstbewusstsein in seiner freundlichen Art herausfordert.

Die Besonderheit Hulots, schrieb André Bazin, geistiger Vater der späteren Nouvelle Vague, sei eine geradezu metaphysische Schüchternheit. Hulot „wagt es nicht, vollständig zu existieren“. Darum bestreitet Tati seinen Film gänzlich ohne Nahaufnahmen, bleibt in der halbnahen Distanz. Sein merkwürdiger Gang mit vorgestrecktem Kopf, als suche er etwas, stellt ihn und damit auch uns in eine Beobachterposition. Gleicht er damit nicht dem Touristen, der sich nur zögernd in eine historische Altstadt hineinwagt, die er nicht kennt? Sicher, doch Hulots existentielle Unsicherheit geht weiter: Selbst im Urlaub ist er ein Tourist im Leben der anderen. Warum geht es ihnen nicht genauso? Zum Glück des Publikums und vielleicht auch seines eigenen scheint er sich dieser Diskrepanz nicht bewusst und geht munter seiner Wege. Wie er ohne ein Wort Bekanntschaften schließt, hübschen Damen die Koffer hinterherträgt oder an Tennisspielen teilnimmt, bleibt sein Geheimnis.

Der seltsamste Feriengast der Filmgeschichte

Am Ende verabreden sich alle aufs nächste Jahr. Wie auf Kommando sind die Geräusche verstummt, selbst die Vögel haben sich verabschiedet. Der Film, ein Klassiker der Slapstick-Komödie und für die Franzosen ein Nationalheiligtum, eine Liebeserklärung an ihre eigenen Marotten und das alljährliche Urlaubsritual, hat alles gezeigt. Aber Monsieur Hulot, von dem wir nicht wissen, warum und vor allem wovon er eigentlich Urlaub macht, dürfte wieder dabei sein. Sind doch Ferien mit ihm alles andere als Routine. Wer den Film ein zweites, drittes oder viertes Mal sieht, wird jedes Mal ein neues Detail entdecken. Der Mann mit dem Hut, der Pfeife und dem staksigen Gang spricht uns noch heute an – eine emblematische Figur wie Chaplins Tramp, ein liebenswertes Unikum, und ganz sicher der seltsamste Feriengast der Filmgeschichte.

Die Ferien des Monsieur Hulot (Les vacances de Mr. Hulot)
Regie: Jacques Tati
Frankreich 1953
ca. 83 Minuten, FSK: 6