Gerald Neubauers Mutter hat Leukämie, sie stirbt, als er 15 ist. Er ist nun allein mit seiner Schwester und dem Vater, aber das Verhältnis ist schwierig. Sie leben in einem großen Haus am Stadtrand von Darmstadt, der Vater, ein Maschinenbauingenieur, fährt ein dickes Auto und hat eine klare Vorstellung davon, wie man zu leben hat. Nämlich nicht so wie sein Sohn. Der trägt lange Haare, zieht in einen Bauwagen ohne fließendes Wasser und mit einer Solarzelle auf dem Dach. Er nimmt an Protestcamps und Sitzblockaden gegen Castortransporte teil. Er ist radikal gesellschaftskritisch und lehnt vieles ab: Atomkraft, die Abholzung des Regenwaldes, den Staat und die Bundeswehr. Konsum und auch Geld gehören in seinen Augen ebenfalls abgeschafft. Er liest, was Gandhi über Besitzlosigkeit sagt, und lebt von dem, was er als Zivildienstleistender und Verkäufer in einem Bioladen gespart hat. Plötzlich stirbt sein Vater mit gerade einmal 58 Jahren an einem Herzinfarkt. Das dicke Auto, das Haus und dazu ein Batzen Geld gehören jetzt ihm und seiner Schwester.

Trifft man Gerald Neubauer heute, zwölf Jahre später, hat er sich nicht nur äußerlich verändert. Die blonden Haare sind kurz, die blauen Augen schauen durch eine viereckige Brille, er trägt Jeans und einen blauen Ringelpullover. In der aufgeräumten Küche seiner Wohnung in Bielefeld, die er mit Freundin und Tochter teilt, macht er Kaffee. Die Zeiten ohne fließendes Wasser sind längst vorbei. Der 35-Jährige erzählt wohlüberlegt und offen am Holztisch, wie ihn die Erbschaft verändert hat. „Zuvor habe ich mich sehr engagiert“, sagt er, „aber es gab auch eine Orientierungslosigkeit in meinem Leben.“ Dass ihm ausgerechnet Geld, das er für sinnlos hielt, dabei half, so etwas wie einen Sinn in seinem Leben zu finden, ist für ihn nach wie vor erstaunlich. Am Anfang empfindet er das Erbe als wahnsinnig ungerecht. Wieso fällt ihm das Geld in den Schoß, während andere nichts haben? Er spürt das Bedürfnis, es für seine Ideale zu verwenden. Soll er es machen wie der grüne Bundestagsabgeordnete Tom Koenigs, der sein Erbe Anfang der siebziger Jahre dem Befreiungskampf in Vietnam und den chilenischen Widerstandskämpfern geschenkt hat? Da ist aber auch stets der verführerische Gedanke, einige Jahre unabhängig leben zu können und nicht arbeiten zu müssen. Seine Schwester ist ihm damals keine Hilfe, sie deponiert ihren Anteil bei einer Bank. Mit einem Freund aus gutbürgerlichem Hause, der einen reichen Unternehmervater hat und ihn versteht, führt er lange Gespräche über ethisch vertretbare Geldanlagen.

Am Anfang fand er das Erbe wahnsinnig ungerecht

Neubauer zieht nach Verden an der Aller, wo er viele Freunde in der alternativen Szene hat, und studiert Soziologie und Philosophie. Jobben muss er nicht, er zehrt von dem, was auf dem Konto liegt. Er bekommt ja noch obendrauf eine Vollwaisenrente und teilt sich mit seiner Schwester die Mieteinnahmen aus dem geerbten Haus. Er ist weiter aktiv in der Antiatombewegung und gibt der Bewegung „X-tausendmal quer“ einen Risikokredit über 10.000 Mark zur Finanzierung der Mobilisierung gegen Castortransporte. Neubauer merkt, dass sein Geld für ihn Sinn machen kann. Ein Freund erzählt ihm von Stiftungen reicher Erben in den USA, die Proteste fördern. Am Küchentisch der Wohngemeinschaft entsteht die Idee, solch eine Stiftung in Deutschland ins Leben zu rufen. Gerald Neubauer sucht andere Erben, die denken wie er, und wird fündig. Es gibt jede Menge Menschen, die mitmachen. „Ich war erstaunt, wie schnell das ging.“

Am 2. März 2002, dreieinhalb Jahre nach dem Tod seines Vaters, wird die „Bewegungsstiftung“ mit Sitz in Verden gegründet. Der Kapitalgrundstock beläuft sich auf 250.000 Euro. Neubauer, der zu der Zeit gerade ein Auslandssemester in Paris macht, reist nach Berlin zur feierlichen Unterzeichnung, er gehört zu den neun Stiftungsgründern. Als er seine Unterschrift unter die Urkunde setzt, hält er kurz inne und schluckt. „Oh Gott“, fragt er sich, „tue ich das Richtige?“ Ein Drittel seines Erbes hat er weggegeben. Den Rest hat er in ökologischen Aktienfonds und in Öko-Sparbüchern angelegt, einen Teil auch in eine Wohnungsgenossenschaft in Verden gesteckt. Seine Entscheidung hat er nie bereut. „Das ist das Beste, was ich überhaupt je mit Geld gemacht habe“, sagt er und sieht sehr zufrieden dabei aus. Wichtig und „ganz toll“ ist für ihn „die große und inspirierende Gesellschaft“ der Stifterinnen und Stifter zwischen 22 und 83 Jahren, die zwischen 5.000 und einer Million Euro gegeben haben. Bisher sind etwa 4,5 Millionen Euro in die Bewegungsstiftung geflossen. Angelegt wird das Kapital nach strengen ökologischen, sozialen und ethisch-nachhaltigen Kriterien. Es wird in Alternativprojekte gesteckt, in Sparbriefe, ökologische und soziale Fonds. Immer geht es darum, soziale Ungleichheiten und Umweltzerstörung zu beseitigen. Aus Gerald, dem Anarchisten, dem sein spießiger Vater suspekt war, ist mit dessen Geld Gerald, der kämpferische Stifter geworden.

Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen sind derzeit mehr als 18.000 Stiftungen bürgerlichen Rechts eingetragen. Der Verband selbst zählt 3.600 Mitglieder und mehr als 6.000 Stiftungen, die ihm über Stiftungsverwaltungen mitgliedschaftlich verbunden sind und die es zusammen auf ein geschätztes Vermögen von mehr als 100 Milliarden Euro bringen. Unter ihnen rangieren sowohl große und namhafte wie die Robert Bosch Stiftung als auch bescheidenere Bürgerwerke. Interessant ist, dass das Geld nicht mehr wie noch vor einigen Jahren auf viele kleine Projekte aufgeteilt wird. Die Förderer konzentrieren sich zunehmend auf einzelne Themen, denen sie auf lange Zeit treu bleiben. Deshalb unterstützten sie die Arbeit von sozialen Bewegungen für Demokratie, Frieden, Ökologie und Gerechtigkeit. In den vergangenen Jahren hat die Bewegungsstiftung über 80 Protestkampagnen unterstützt. Weil für den Erfolg sozialer Bewegungen Menschen mit Kontakten, Erfahrung und Kompetenz wichtig sind, unterstützt die Stiftung durch ein Patenschaftssystem auch sogenannte Bewegungsarbeiter. Das sind Aktivisten, die „Bewegungsarbeit“ zum Beruf gemacht haben und von Paten finanziell unterstützt werden.

Mittlerweile hält er es sogar für möglich, dass sein Vater stolz auf ihn wäre

Bald wird Neubauer seine Doktorarbeit fertig haben. Das Thema: „Ziviler Ungehorsam von Staaten“. Danach will er möglichst schnell wieder als Aktivist tätig werden. Nach dem Kampf gegen Atomenergie hat er sich jetzt der Braunkohle verschrieben. Er spielt mit dem Gedanken, sich bei der von ihm mitgegründeten Stiftung als Bewegungsarbeiter zu bewerben und Paten zu suchen. So könnte er seine Überzeugung zum Beruf machen. Er hält es für möglich, dass sein Vater, den er mittlerweile in einem milderen Licht sieht, stolz darauf wäre, was er mit seinem Geld gemacht hat. Geld gehört für ihn auch nicht mehr abgeschafft. Er sieht es als „notwendiges Zahlungsmittel“, das Dinge bewegen und das Leben angenehmer machen kann: ICE statt Wochenendticket, eigener Haushalt statt WG, so was in der Art.

Hat er sich eigentlich auch was geleistet, nachdem er geerbt hatte? Er muss überlegen. Den extremen Konsumverzicht hat er längst hinter sich gelassen. „Ja“, sagt er schließlich, „ich habe mir ein Liegerad für 3.000 Mark gekauft.“ Er klingt jetzt ganz so, als müsste er sich dafür immer noch entschuldigen.

Erbschaft

In Deutschland werden zurzeit pro Jahr Werte in Höhe von etwa 200 Milliarden Euro vererbt. Allerdings sind die Summen sehr ungleich verteilt. 28 Prozent aller Erbschaften liegen unter 25.000 Euro. Die größten zwei Prozent aller Erbschaften machen fast ein Drittel der Gesamtsumme aus. In fünf Prozent aller Fälle hinterlässt der Verstorbene seinen Erben Schulden. Der Staat kassiert im internationalen Vergleich nicht besonders viel Geld von den Erben: Etwa 4 Milliarden Euro werden abgeführt. Die meisten Erbschaften sind steuerfrei. Beim Ehegatten beträgt der Freibetrag 500.000, beim Kind sowie beim Enkel, dessen Eltern bereits verstorben sind, 400.000 und beim Enkel, dessen Eltern noch leben, 200.000 Euro.

Stiftungen

Die Tradition der Stiftungen geht aufs Mittelalter zurück. Damals finanzierte manch frommer Mensch einen ganzen Stift, also eine kirchliche Einrichtung samt Gebäude und Personal. Am ehesten noch seines eigenen Seelenfriedens wegen. Heute wird mit dem in ei- ner Stiftung an- gelegten Vermögen ein vom Stifter festgelegter Zweck verfolgt. Die Inhaber der Stiftung sollen keine Gewinne erzielen, das Vermögen soll aber auf Dauer erhalten bleiben. Stiftun- gen können in verschiedenen Formen und zu jedem legalen Zweck errichtet werden. Die meis- ten Stiftungen dienen gemeinnützigen Zwecken.