Dutzende roter Rosen türmen sich vor dem dunkelgrauen Gedenkstein. Genau dort, wo einst nur hundert Meter entfernt eine kleine Synagoge stand, bis sie von den Nationalsozialisten niedergebrannt wurde. Viele Dortmunder sind an diesem kalten 27. Januar in den Stadtteil Dorstfeld gekommen, um an den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zu erinnern. „Wachsam“ gegenüber der Ideologie der Nationalsozialisten müsse die Gesellschaft bleiben, mahnt Grünen-Bezirksbürgermeister Friedrich Fuß. Auch in anderen Städten Deutschlands wird an diesem Tag der Opfer des Holocaust gedacht, und doch ist in Dorstfeld alles anders. Gleich acht Polizeiwagen stehen verteilt in den Seitenstraßen, Beamte in Uniform und Zivil haben sich im Umkreis postiert und mustern jeden Fußgänger misstrauisch. In keiner anderen Stadt muss die Feier unter derart strengen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. „Es ist traurig, dass die ganze Polizei nötig ist“, sagt eine Anwohnerin. „Aber wenn die nicht da wäre, würden sofort die Idioten kommen und Ärger machen.“

Ärger machen die Neonazis seit vielen Jahren, von Dorstfeld aus halten sie ganz Dortmund in Atem. In dem kleinen Bezirk mit seiner kargen Mischung aus historischen Fachwerkhäusern und grauen Plattenbauten, der von der Dortmunder Innenstadt nur wenige U-Bahn-Stationen entfernt liegt, sind die Spuren der Rechtsextremen nicht zu übersehen. Jeder Laternenpfahl ist mit Dutzenden ihrer Aufkleber übersät. Viele wurden schon abgerissen, doch jeden Tag kommen neue dazu. Nicht weit entfernt vom Holocaustmahnmal wurden die Worte „Nationaler Widerstand“ und ein verbotenes Keltenkreuz an eine Hauswand geschmiert.

Besondere Merkmale der neuen Nazis: wenige. Das ist ja das Problem

Gleich mehrere Neonazi-WGs haben sich hier angesiedelt, dominiert wird die Szene von den sogenannten Autonomen Nationalisten (AN). Hinter dieser Selbstbezeichnung stecken junge, äußerst rücksichtslose Neonazis, deren besonderes Merkmal es ist, dass sie wenige besondere Merkmale haben. Wer in Dorstfeld Ausschau nach Skinheads mit Springerstiefeln und Bomberjacken hält, wird nicht viele finden. Die Autonomen Nationalisten kleiden sich modern und sportlich. Für Außenstehende sind sie in ihren schwarzen Kapuzenjacken, Turnschuhen und mit Buttons verzierten Baseballcaps kaum von anderen Jugendlichen zu unterscheiden. In ganz Deutschland gibt es solche Gruppen, doch nirgends hat sich diese Strömung so stark etabliert wie in Dortmund. Das vergleichsweise wenig martialische Aussehen bedeutet keineswegs einen Verzicht auf Gewalt: Bei einer Dorstfelder Gedenkfeier zur Pogromnacht im November 2011 tauchten die Rechtsextremisten auf und schrien Parolen. Die jüdische Gemeinde und Vertreter der Stadt waren geschockt. Bereits ein paar Wochen zuvor hatte die Gruppe „ihr“ Viertel mit kleinen schwarz-weiß-roten Fahnen an Laternen, Ampeln und Straßenschildern markiert. Die Feuerwehr brauchte Stunden, um die rechte Propaganda zu entfernen. Einen Tag vor Heiligabend klingelte dann ein Neonazi im Weihnachtsmannkostüm an der Tür des Privathauses von Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) und drückte dessen überraschter Frau ein makabres Geschenk in die Hand. Eine Flasche Wein für die Eltern und eine Nazi-CD für die Kinder lagen in dem Paket. Die Botschaft hätte kaum eindeutiger sein können: Wir wissen, wo ihr wohnt.

Das sind noch die harmlosen Machtdemonstrationen der Szene. Kaum jemand, der sich gegen Nazis starkmacht, scheint in der Stadt sicher zu sein. Die Liste von Anschlägen, Drohungen und Gewalttaten der letzten Jahre füllt mehrere Seiten. Engagierte Jugendliche werden ausgespäht und zusammengeschlagen, Fensterscheiben der Büros von SPD, Grünen und der Linken eingeworfen oder mit Stahlkugeln zerschossen. Am häufigsten trifft es die alternative Kneipe „Hirsch-Q“ in der Innenstadt. Ganze 18 Mal wurde die Fensterfront zerstört oder beschmiert. Ein vier Minuten langes Video vom bislang heftigsten Angriff im Dezember 2010 kann man im Internet auf YouTube anschauen. Immer wieder zerren die Angreifer Gäste aus der Kneipe und treten auf sie ein. Vier Besucher wurden verletzt, einer davon durch Messerstiche. In diesem Fall waren die Täter nach Informationen des Dortmunder Antifa-Bündnisses Mitglieder der „Skinhead-Front Dorstfeld“, eine weitere Dortmunder Nazi-Gruppe, die sich aus klassischen Skinheads zusammensetzt, in ihrer Gewaltbereitschaft den AN aber in nichts nachsteht. Alle Angreifer konnten wenige Straßen entfernt festgenommen werden, doch bis heute hat die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben.

Ein harter Kern von 50 Neonazis hält eine ganze Großstadt in Atem

Ein gefährliches Klima der Angst haben die Neonazi-Gruppen in der 580.000-Einwohner-Stadt geschaffen. Überall finden sich ihre Aufkleber mit der Kampfansage „Dortmund ist unsere Stadt“. Sogar T-Shirts mit dem Slogan haben sie drucken lassen. Zudem verfügen die AN über ein eigenes Nazi-Zentrum in Dorstfeld, in dem sie sich wöchentlich treffen oder Schulungsveranstaltungen durchführen. Auch einen eigenen VW-Bus, der als Lautsprecherwagen dient, haben sie sich gekauft. Mit einem jährlichen Aufmarsch im September haben die AN einen festen Termin im Kalender der bundesweiten Szene etabliert. Bis zu 1.000 gewaltbereite Rechtsextremisten reisen dafür jedes Jahr an. Aber warum ausgerechnet Dortmund? Die NPD hat hier kaum Wahlerfolge zu verzeichnen. Bei der Landtagswahl 2010 erhielt sie lediglich 1,4 Prozent der Zweitstimmen. Viele sagen, die AN seien hier so stark, weil die Stadt schon immer einen guten Ruf in der Nazi-Szene hatte. In den 80er-Jahren machte die berüchtigte „Borussenfront“, angeführt vom späteren FAPLandesvorsitzenden Siegfried Borchardt, Spitzname „SS-Siggi“, die Nordstadt und das Westfalenstadion unsicher. Im Jahr 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger aus seinem Auto heraus drei Polizisten. Die „Kameradschaft Dortmund“ druckte danach zynische Aufkleber: „3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns“. Als 2003 die Wehrmachtsausstellung in Dortmund gezeigt wurde, fanden mehrere Großaufmärsche statt.

2005 gab es erneut ein Todesopfer rechter Gewalt. Dieses Mal traf es den Punk Thomas Schulz. Der damals 17-jährige Neonazi Sven Kahlin tötete ihn nach einem Streit im U-Bahnhof mit einem Stich ins Herz. Seit seiner vorzeitigen Entlassung ist Kahlin wieder an der Skinhead-Front Dorstfeld aktiv und trat bereits als Redner bei Aufmärschen auf. Dann prügelte er im Winter 2011 zwei jugendliche Migranten bewusstlos. Jetzt sitzt er wieder in Haft. Auch die Zwickauer Terrorzelle mordete in Dortmund. Am 4. April 2006 wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in seinem Geschäft erschossen. Zu dieser Zeit hatten die AN längst begonnen, ihre Strukturen aufzubauen. Eine „Politik des Ignorierens von Polizei, Stadt und Medien“ habe es lange Zeit gegeben, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum. Lokalmedien versuchten anfangs gar nicht, über die Neonazis zu berichten, rechtsextreme Gewalttaten wurden von der Polizei häufig als „Auseinandersetzung unter rivalisierenden Jugendgruppen“ verharmlost. „Man gewinnt den Eindruck, dass die Neonazis vor Ort offenbar lange das Gefühl hatten, sie könnten in Dortmund quasi alles machen, was sie wollen, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen“, sagt Schedler. Fast so eine Art rechtsextreme Erlebniswelt mit Konzerten, Partys, Aufmärschen und Gewalt, die anziehend auf anpolitisierte Jugendliche wirke, sei so entstanden. Aufgewacht seien die Dortmunder erst, als am 1. Mai 2009 plötzlich 300 bis 400 Neonazis eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes überfielen. Mit Fahnenstangen, Fäusten und Böllern wurden Teilnehmer und Polizisten attackiert.

Hartmut Anders-Hoepgen, ehemaliger Superintendent der Evangelischen Kirche in Dortmund und Lünen, hat den Kampf gegen die Rechtsextremisten aufgenommen. Schon lange vor dem Angriff auf den DGB habe man das Problem im Blick gehabt, betont er. Tatsächlich hat die Stadt schon 2007 eine Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus eingerichtet, die Anders-Hoepgen jetzt leitet. Doch da war es fast schon zu spät. Nur sehr langsam begannen die Gegenaktivitäten Wirkung zu zeigen. „Wir arbeiten seit Jahren mit allen Akteuren in der Stadt zusammen“, sagt der 67-Jährige. Aber es brauche viel Zeit, bis diese Arbeit für alle sichtbar werde. 100.000 Euro stellt die Stadt pro Jahr dafür bereit. Viel Geld in Zeiten von leeren Kassen. 2011 wurde das Budget sogar noch einmal verdoppelt.

Anders-Hoepgen wirkt nicht verbittert, wenn er von Rechtsextremen erzählt, die den Frieden in seiner Stadt bedrohen. Mit seinem grauen Bart und den Lachfalten im Gesicht strahlt er eine Freundlichkeit und Ruhe aus, die vielleicht nur ein Pfarrer haben kann. Und er weiß genau, worauf es ankommt, um den Neonazis nicht das Feld zu überlassen. Anders-Hoepgen war es beispielsweise, der dafür gesorgt hat, dass die Stadt das Gebäude kaufte, in dem die AN ihr Zentrum eingerichtet haben. „Wir haben denen das vor der Nase weggeschnappt“, sagt er. Kurz nach dem Kauf erhielten die Neonazis die Kündigung, nun soll dort ein Jugendzentrum entstehen. Es sind diese kleinen Erfolge, die dem Pfarrer Mut machen. Rund 50 Neonazis bilden in Dortmund „den harten Kern“, sagt Anders-Hoepgen. Eigentlich eine überschaubare Gruppe, entscheidend sei jedoch das enorme Mobilisierungspotenzial. „Der Giemsch schickt eine SMS, und ein paar Stunden später sind 200 Neonazis aus den umliegenden Städten da“, sagt er. Dennis Giemsch. Egal mit wem man über die Dortmunder Szene spricht, jedes Mal fällt sein Name. Der Multifunktionär ist die unangefochtene Führungsfigur im AN-Spektrum Nordrhein-Westfalens.

Der neue Polizeipräsident will den Nazis richtig auf den Füßen stehen

Schon als Teenager tauchte er bei NPD-Aufmärschen auf. Ab 2002 etablierte er gemeinsam mit Berliner Rechtsextremisten den neuen Stil der AN. Heute fungiert er als Anmelder zahlreicher Aufmärsche und Anführer des „Nationalen Widerstands Dortmund“. Giemsch ist nicht dumm wie manch trinkfreudiger Skinhead. Er kann planen, organisieren, reden und die Leute für sich begeistern, erzählen Aussteiger. Gerne zitiert er bei Aufmärschen Adolf Hitler. Nicht viele in der Szene trauen sich, in der Öffentlichkeit so deutlich zu werden wie er. Der Applaus der „Kameraden“ ist deshalb umso größer. Aber Giemsch ist auch Geschäftsmann und weiß, wie man mit rechtsextremer Ideologie viel Geld verdient. Sturmhauben, Stahlzwillen, Pfefferspray, Rechtsrock- CDs und Propaganda – in seinem Versand bekommt die braune Kundschaft alles, was sie begehrt. Zudem versorgt er über seinen Server diverse AN-Gruppen mit Speicherplatz für ihre Webseiten. Seinen Versandhandel hat er mit Steuergeldern aufgebaut. Erst als Antifa-Gruppen die Behörde darüber informierten, was hinter der vom Amt geförderten Ich-AG von Giemsch steckt, wurde das Geld zurückgefordert.

Nicht nur beim Kampf gegen Rechtsextremismus, auch bei der Unterstützung der Betroffenen rechtsextremer Übergriffe hat sich in Dortmund etwas getan. Im November richtete die Stadt eine unabhängige Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt ein. Wer angegriffen oder bedroht wird, kann sich bei Back Up melden und erhält professionelle Hilfe. Das fünfköpfige Team kümmert sich unentgeltlich um Anwälte sowie psychologische Betreuung und begleitet die Betroffenen zu Gerichtsverhandlungen und zur Polizei. „Schon nach zwei Monaten hatten wir 31 Fälle zu betreuen“, sagt Bianca Ziborius von Back Up. „Wir kommen mit der Arbeit kaum nach.“ Viele Opfer, aber auch Zeugen würden nicht zur Polizei gehen, weil sie das Vertrauen in die Beamten verloren hätten, sagt sie. Eine engagierte Schülerin, so die Verantwortlichen von Back Up, sei vor einigen Wochen von Neonazis bedroht worden. Sie habe Anzeige erstattet, aber statt die Täter zu fassen, hätten die Beamten das Mädchen im Verhör ausgefragt, ob es Mitglied einer linken Gruppe sei. So sei aus dem Opfer eine potenzielle Täterin gemacht worden, die den rechtsex-tremen Drohungen weiter ausgeliefert gewesen sei.

Der neu ernannte Polizeipräsident von Dortmund, Norbert Wesseler, will solche Vorwürfe gegen seine Beamten nicht stehen lassen. Ihm ist es wichtig zu zeigen, dass seine Behörde das Thema ernst nimmt. Der Schock über die Aufdeckung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ kam etwa zu der Zeit, als Wesseler seine neue Stelle antrat. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Einrichtung der sogenannten Besonderen Aufbau- Organisation. Szenekundige Beamte vom Landeskriminalamt und anderen Stellen sollen darin ihre Kräfte bündeln und die Neonazis stärker ins Visier nehmen. „Wir wollen denen richtig auf den Füßen stehen“, sagt Wesseler. Auf Schritt und Tritt sollen die Beamten die Szene begleiten. In Dorstfeld ist zudem eine Task Force vom Ordnungsamt im Einsatz, um jedes kleinste Vergehen zu ahnden. Rechtsextreme Plakate, Aufkleber und Schmierereien sollen immer sofort entfernt werden. Die Zeiten, in denen die AN das Gefühl hatten, unbeobachtet agieren zu können, sollen nun endgültig vorbei sein. „Unattraktiv“ will Wesseler seine Stadt für die Szene machen, und er hofft, den Stempel „Nazi-Hochburg“ irgendwann loszuwerden. Er weiß, dass die Stadt dafür einen langen Atem braucht.