"Die meisten feministischen Theorien haben den Konstruktivismus als Grundlage", erklärt Melanie Groß. Die Diplompädagogin promoviert gerade über die verschiedenen Positionen innerhalb des Feminismus und arbeitet an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Die wichtigste Annahme des Konstruktivismus besagt, dass die Strukturen, in denen wir als Menschen leben, uns in unserem Wesen beeinflussen und umgekehrt. Das Fazit: Eine von außen beobachtbare und von vornherein feststehende Wahrheit gibt es nicht. Außerdem muss zwischen den feministischen Strategien und ihren theoretischen Grundlagen unterschieden werden. Strategien, die von der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter ausgehen, sind der marxistische und der liberale Feminismus.
Ersterer erklärt die Geschlechterdifferenz ökonomisch-gesellschaftlich, es geht vor allem um die Art des Ausbeutungsmechanismus: Stellt die Frauenunterdrückung die Grundlage für den Kapitalismus dar oder ist es nur ein "Nebenwiderspruch"? Für marxistische Feministinnen wie Frigga Haug steht fest, dass der Kapitalismus nur funktionieren kann, weil Frauen die Reproduktion, also die Hausarbeit und Kindererziehung, unentlohnt übernehmen. An dieser These wurde vor allem kritisiert, dass sie die Opferrolle der Frauen überbetont und außer Acht lässt, dass auch Frauen die kapitalistischen Strukturen reproduzieren.
Doing Gender?
Der liberale Feminismus möchte die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen erreichen, stellt dabei aber nicht das System an sich infrage. "Es geht also eher darum, dass Frauen auch Ingenieurinnen werden können – nicht um den trotzdem noch vorhandenen Unterschied zwischen den Klassen", erklärt Groß.
Der Gleichheitsfeminismus als Strömung beruft sich auf die "doing gender"-Theorie. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen entstehe erst durch die in der Gesellschaft herrschenden Machtverhältnisse. Diese bewirken, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Sozialisation erfahren, was schließlich in den gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen mündet. Die Hauptfrage des "doing gender"-Ansatzes ist also, wie "Geschlecht" hergestellt und durch andere erkannt wird. Die Idee des "doing gender" leitet sich ab von Simone de Beauvoir, die bereits 1951 feststellte: "Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht." In ihrer Analyse zeigt sie, dass Männer in der Gesellschaft an die Stelle des Absoluten, des Subjekt gesetzt werden, während die Frau damit in die Rolle des "Anderen", des Objekts fällt.
Aus diesem Gesichtspunkt heraus sieht der Gleichheitsfeminismus auch Maßnahmen wie spezielle Frauenförderung kritisch, da diese die Opferrolle der Frau und ihre Ohnmacht weiter festschreibe. In den 1980er-Jahren wurde Beauvoirs These weiterentwickelt, die "doing gender"-Theorie geht davon aus, dass es ein biologisches ("sex") und soziales Geschlecht ("gender") gibt. Diese Definition hat inzwischen sogar das Bundesfamilienministerium übernommen und schreibt auf seiner Homepage: Gender "bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechtsrollen von Frauen und Männern. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt und damit auch veränderbar."
Einen anderen Ansatz verfolgen die Strategien, die sich unter dem Begriff "dekonstruktiver Feminismus" fassen lassen. Auch hier wird mit dem "doing gender"-Ansatz gearbeitet, jedoch fundamentale Kritik an den Kategorien "Frau" und "Mann" geübt. Der postkoloniale Feminismus als Strategie lenkt den Fokus erstmals weg von der weißen Mittelschichtsfrau als (un- oder ausgesprochener) Ausgangspunkt für die feministischen Analysen. Die bisherigen Feminismen gingen von der Einheitlichkeit der Frauen aus, konstruieren so also eine Gruppe, die es nach Meinung der postkolonialen Theorie nicht gibt. Zudem sei das Geschlecht keineswegs die einzige Kategorie, nach der Menschen eingeteilt und diskriminiert würden. So haben Frauen in afrikanischen Ländern einen ganz anderen Lebenszusammenhang als europäische und US-amerikanische, die aber bisher die Theorie entscheidend prägten. Die "Black feminists" zeigten deshalb auf, dass die feministische Theorie "weiße Flecken" hat: Statt dem Mann dient jetzt die weiße Frau der Mittelschicht als "Standard", was wiederum die Lebenswirklichkeit des Großteils der Frauen unberücksichtigt lässt.
Was denn nun: Alter, Nationalität oder Klasse?
Die queer theory verbindet den postkolonialistischen Ansatz mit den US-amerikanischen gay- und lesbian studies. Durch die queer theory wird deutlich, dass feministische Theorien bisher die sexuelle Orientierung und Identität derer, für die sie sich einsetzten, vernachlässigt hatten. Die von der queer theory geübte Kritik ist vor allem, dass durch die bisherigen feministischen Theorien die Heterosexualität als Norm festgeschrieben blieb. Die prominenteste Vertreterin des dekonstruktivistischen Feminismus ist die Amerikanerin Judith Butler. Sie knüpft an die Aussagen Simone de Beauvoirs an, geht aber noch einen Schritt weiter: Geschlecht, sowohl das biologische als auch das soziale, werde erst durch Sozialisation in der Gesellschaft erzeugt. "Sex" sei dabei der Effekt des jeweilig zugeordneten "gender" und stehe keineswegs von vornherein fest. Die Kategorie "Geschlecht" wird damit unbrauchbar, da die queer theory davon ausgeht, es gebe so viele Identitäten wie Menschen, wobei das Geschlecht nur eine von vielen Kategorien sei, nach der die Menschen sortiert werden können.
Dass es zwischen all diesen Ansätzen Kontroversen gibt, scheint dabei vorprogrammiert. Die aktuellen Themen im wissenschaftlichen Feminismus drehen sich laut Groß vor allem um die Grundlagen: Sind die Kategorien "Männer" und "Frauen" noch sinnvoll? Und vor allem: Welche anderen Formen der Kategorisierung und Unterdrückung wie Alter, Nationalität oder Klasse müssen berücksichtigt werden?
Auch melden sich immer wieder kritische Stimmen, die den gender und queer studies vorwerfen, nur ihre eigene Identität zum Forschungsobjekt zu haben und dadurch zwangsläufig subjektiv zu sein. Melanie Groß kennt diesen Vorwurf und sagt: "Feministische Theorien sind ja nicht die einzigen, die den Menschen als Forschungsgegenstand haben. Und spätestens seit Adorno und Horkheimer ist klar, dass es so etwas wie objektive Wissenschaft einfach nicht geben kann." Auch die Naturwissenschaften, die in Deutschland eine größere Deutungsmacht besäßen, seien keineswegs objektiv. "Der Feminismus macht wenigstens seinen jeweiligen Standpunkt klar", so Groß. Innerhalb der Sozialwissenschaften sei die Idee des Konstruktivismus anerkannt. "Es geht uns ja hier nicht darum, Flugblätter zu drucken, sondern wissenschaftliche Grundlagen zu schaffen."
Frida Thurm schreibt für Zeitungen und Magazine. Sie lebt in Berlin.