So richtig glücklich ist Stephan Urbach schon als Kind nicht – obwohl er dank seines Opas früh seine Leidenschaft für Technik entdeckt, sich mit dem Computer und dem Internet eine neue Welt erschließt. Im Laufe der Jahre wird klar, dass er nicht einfach nur etwas unglücklich ist: Ihn quälen Depressionen. Doch statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, verdrängt Urbach sie lieber, erst recht, als er mit 30 beginnt, sich bei Telecomix zu engagieren, einem Zusammenschluss von Netzaktivisten und Hackern, die für mehr Meinungsfreiheit kämpfen.

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cms-image-000047591.jpg (Foto: Reuters)
(Foto: Reuters)

Gemeinsam mit den anderen Aktivisten verfolgt Urbach, wie sich im Dezember 2010 im arabischen Raum Widerstand zu regen beginnt: Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeiten, mangelnde Perspektiven und repressive Regierungsapparate. Was in Tunesien seinen Anfang nimmt, setzt sich zunächst in Ägypten fort. In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 2011 veranlasst Ägyptens damaliger Präsident Hosni Mubarak, dass fast der gesamte ägyptische Bereich des Internets ausgeknipst wird. Er will die Protestierenden zum Schweigen bringen.

„Meine tiefste Überzeugung war und ist es, dass der Freiheitsgrad einer Gesellschaft am Freiheitsgrad ihrer Kommunikationsnetze gemessen werden muss“, schreibt Urbach in seiner Biografie „Neustart“, im Oktober bei Droemer Knaur erschienen. Die ÄgypterInnen waren demnach nicht mehr frei.

Doch dann gehen bei Bibliotheken, Universitäten, Computerläden, Hotels in Ägypten Faxe ein. Der Absender: Telecomix. Der Inhalt: Nummern. Nummern, die zu den Modems der Netzaktivisten gehören. Die ÄgypterInnen wählen sich mit diesen ins Internet ein – als säßen sie bei den Aktivisten mit im Wohnzimmer. So gelingt es Telecomix, dass wenigstens ein kleiner Teil vernetzt und mit der Außenwelt in Kontakt bleibt.

Irgendwann wurde es persönlich

Und Ägypten ist bloß der Anfang. Im Februar 2011 protestieren die ersten Menschen in Syrien. Im März erhält Stephan Urbach in einem der Chats von Telecomix eine Nachricht von dort: „Hello I am Muhammad. I am in Aleppo.“ Es vergeht fortan kaum ein Tag, an dem Urbach nicht mit Muhammad chattet, seine Sorgen und Ängste teilt, ihm versucht zu helfen. Sie werden Freunde.

Es sind nicht nur Muhammads Schilderungen, die Stephan Urbach immer mehr fortziehen von seiner Realität hinein in die Realität in Syrien, die zunehmende Eskalation und die Gewalt. Telecomix setzt sich auch hier ein. Die Netzaktivisten finden Wege, um die Firewall des syrischen Geheimdienstes zu umgehen. So können sie Videos außer Landes bringen, auf denen die Brutalität des syrischen Staats gegen Protestierende belegt ist. Zudem sorgen sie dafür, dass deren Urheber nicht identifiziert und verfolgt werden können.

Je mehr Videos Stephan Urbach bearbeitet, desto mehr muss er erfahren, dass dem Wunderbaren des Internets – der Überwindung von Grenzen und Distanzen – etwas für ihn Zerstörerisches innewohnt. „Der Arabische Frühling kam näher. Das Ganze wurde persönlich, kroch unter meine Haut und in meine ohnehin gereizten Nervenbahnen.“ Sein unbändiger Drang, zu helfen und die Welt besser zu machen, hält ihn jedoch davon ab, sich zurückzuziehen. „Ich war besessen. Besessen von dem Gedanken, diesen Menschen helfen zu müssen. Die Besessenheit raubte mir den Verstand und den Schlaf.“

Besessen bis zur Selbstzerstörung

Menschen, die Panik und Angst haben, Menschen, die verzweifelt schreien, Menschen, die angeschossen oder erschossen werden – sie alle flimmern unablässig über Urbachs Bildschirm und bringen ihn schließlich so sehr an seine Grenzen, dass er nicht mehr leben will. Während eines Treffens der Telecomix-Aktivisten am 11. August 2011 ringt Urbach sich dazu durch, ihnen zu offenbaren, dass sie sich seiner Meinung nach zu viel aufgebürdet haben. Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da, auch die anderen berichten von totalen Erschöpfungszuständen. In diesem Moment nimmt Urbach seinen Entschluss, sich umzubringen, wieder zurück.

Ob es um seine Depressionen oder die Vorgänge in der arabischen Welt geht – Stephan Urbach schreibt erschütternd ehrlich und direkt. Mitunter kann das ein wenig nerven, weil man gerne eine zweite Meinung hören würde. Oder weil man solch eine Offenheit und Nähe zum Autor überhaupt nicht gewohnt ist. Allerdings ist Urbachs Buch deswegen erst recht lesenswert. Der Autor gibt eine neue, persönliche Sichtweise auf die Geschehnisse während des Arabischen Frühlings. Er macht die Welt des Internets verständlich, zeigt ihre guten und schlechten Seiten auf und beschreibt, welche Bedeutung das Netz für eine freie Gesellschaft hat. All das gelingt Stephan Urbach, weil er erzählt, wie er erzählt: einfach und klar, geradeheraus, ohne Umschweife. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Das Buch

Stephan Urbach: „Neustart. Aus dem Leben eines Netzaktivisten“; Droemer Knaur, München 2015, 256 Seiten, 12,99 Euro