An der südchinesischen Küste ist die Luft heiß wie im Ofen, unter der knallenden Mittagssonne schlurft Hong Ruichao in Hemd und Anzughose ins Dorfrathaus zur Arbeit. Er flucht. Gestern Nacht hat wieder jemand sein Bürofenster eingeschlagen. Er weiß sogar, wer es war, die Sicherheitskameras haben alles aufgenommen. Auf den Bildern sieht man den Neffen eines ehemaligen Dorfkaders, einer seiner korrupten Vorgänger. Eine Racheaktion? Ruichao winkt ab, das passiere nun mal: „Ich habe längst aufgehört zu zählen.“

Hong Ruichao, 28 Jahre alt, groß, gut aussehend, ist demokratisch gewähltes Dorfkomitee-Mitglied und stellvertretender Komiteevorsitzender von Wukan, einem beschaulichen Fischerort mit rund 15.000 Einwohnern. Oder besser: ehemals beschaulich. Denn vor anderthalb Jahren haben die Bürger von Wukan Geschichte geschrieben. Sie wählten in freier Wahl ihr Dorfkomitee, das gab es in China noch nie.

Mehr als 6.500 Dorfbewohner gaben am 3. März 2012 ihre Stimme ab, in provisorisch zusammengezimmerten Wahlkabinen aus Pressholzplatten, bunte Sonnenschirme spendeten Schatten. Die Gemeinde wählte einen 67-Jährigen an die Spitze. Ruichao und zwei seiner Kampfkumpane, auch noch in den Zwanzigern, bekamen einen Platz im Komitee.

Bis zum 21. September 2011 war Wukan ein Dorf wie jedes andere in China. Die Regierenden wurden von der Kommunistischen Partei bestimmt, sie waren niemandem Rechenschaft schuldig außer ihren Vorsitzenden in der Partei. Und sie nutzten ihre Ämter, um reich zu werden.

Mehr als 40 Jahre lang gehörten dieselben Leute dem Dorfkomitee an. In dieser Zeit bauten sie für sich und ihre Familien mehrstöckige Villen, sie kauften sich stets die neuesten Luxuslimousinen. Das Geld dafür kam auch aus geheimen Verkäufen von Grundstücken der Gemeinde an Investoren. Land, das der Dorfbevölkerung eigentlich als Ackerfläche dienen sollte.

Während die Parteikader gut lebten, ging es der Bevölkerung schlecht. Ruichao schickte damals jeden Monat Geld nach Hause, damit seine Eltern über die Runden kamen. Wie viele andere Jugendliche war er mit 17 von zu Hause ausgezogen, um in der 200 Kilometer entfernten Wirtschaftsmetropole Shenzhen zu jobben: Er verkaufte Socken, Handys und Waschmittel, im Monat verdiente er bis zu 10.000 Yuan, etwa 1.200 Euro, ziemlich viel für einen einfachen Fischersohn.

Ruichao und zwei Schulfreunde, die ebenfalls in der Ferne jobbten, diskutierten häufig darüber, was falsch lief in ihrem Heimatdorf. Damals umging Ruichao zum ersten Mal die chinesische Internetzensur und las Nachrichten aus Hongkong über Wahlen in anderen Ländern. Die drei Idealisten gründeten die „Gruppe der heißblütigen Jugend von Wukan“. Zwei Jahre lang schrieben sie Petitionen, sie demonstrierten vor Gebäuden der Provinzregierung, ein kleines Häuflein ärgerlicher junger Männer mit selbst gebastelten Bannern. Sie forderten die Rückgabe des gestohlenen Landes, den Rücktritt der korrupten Kader und freie Wahlen.

Die ganze Welt schaut plötzlich auf dieses Dorf und fragt sich: Kann es ein Modell für ganz China sein?

Damals interessierte sich kaum einer für die Hitzköpfe, bis sich schließlich die Älteren in Wukan den jungen Aktivisten anschlossen. Am 21. September 2011 organisierten die Einwohner ein Sit-in vor der Polizeistation im Dorf. In den Tagen danach kamen viele junge Wanderarbeiter wie Ruichao zurück in die Heimat, um den Protest zu unterstützen. Tagelang prügelten Polizisten mit Schlagstöcken auf die Protestierenden ein, die sich mit Bambusstöcken und Eisenstäben wehrten, es kam zu Festnahmen. Als einer der Demonstranten in seiner Zelle starb, eskalierte die Situation: Mit vereinten Kräften jagten die Bürger sämtliche Beamte und Kader aus dem Dorf. Sie blockierten alle Straßen, stellten sich der anrückenden Armee entgegen.

Und dann passierte das, womit keiner gerechnet hatte: Die Soldaten zogen ab. Der Parteichef der Provinz Guangdong, ein relativ liberaler Kader namens Wang Yang, wollte sich als friedlicher Problemlöser profilieren – aus Angst, dass sich die Proteste wie ein Flächenbrand über sein Territorium ausweiten. Er probierte etwas Neues: Wukan durfte sein Dorfkomitee selbst wählen.

In den ersten Wochen nach der Wahl schwelgt ganz Wukan in Euphorie. Intellektuelle aus Peking und Menschenrechtsaktivisten aus Hongkong reisen an, um zu gratulieren. Politikwissenschaftler kommen, um Chinas Asterix-Dorf zu studieren. „Die Graswurzelbewegung von Wukan – ein Modell für China?“, titeln die Medien. In einem halben Dutzend Dörfern der Region gehen die Menschen nun ebenfalls auf die Barrikaden. Das demokratische Dorfkomitee macht sich im Frühjahr 2012 schnell an die Arbeit: Wasserleitungen werden verlegt, eine Hafenmole wird gebaut, Weidenbäume gepflanzt. Fischer, die in den Regenmonaten nicht aufs Meer können, dürfen Arbeitslosengeld beantragen. Alle Ein- und Ausgaben der Kommune hängen monatlich am Schwarzen Brett aus.

Die demokratisch gewählte Dorfregierung, darunter Ruichao und einige seiner Kampfgenossen, steht vor einem Berg von Aufgaben, viele davon unerwartet. Die Zahl der Einbrüche steigt, da die neuen Polizisten noch eingearbeitet werden müssen. Enteignete Bauern entladen ihren jahrzehntelang angestauten Frust und attackieren die machtlosen Ex-Kader. Um alles Mögliche sollen sich die neuen Volksvertreter kümmern: Der eine hat Streit mit seinem Nachbarn, der andere braucht einen neuen Job, der Dritte hat Schulden. Ruichao ist im Komitee für die Wirtschaft zuständig, er versucht, Unternehmer nach Wukan zu locken. Aber kaum einer will herkommen. Die Firmen fürchten sich vor „politischer Instabilität“.

Im Dorfkomitee wird täglich demokratische Entscheidungsfindung geübt. Anfangs reden alle durcheinander. Mürbe von ständigen Reibereien redet irgendwann nur noch der Komiteevorsitzende Lin, der zumindest aufgrund seiner vielen Lebensjahre Autorität besitzt und die Stellung eines Bürgermeisters hat. Das wichtigste Projekt, das gestohlene Land zurückzuholen, geht nur mühsam voran. Die neuen Besitzer, frühere Parteibonzen und reiche Geschäftsleute, berufen sich auf gültige Kaufverträge. Ruichao rennt jeden Tag gegen Mauern. „Es ist so, als würde der Dieb, der ein Handy geklaut hat, zu dem Bestohlenen sagen: Guck, ich habe den Diebstahl auf Papier legalisieren lassen. Deswegen bin ich nun der rechtmäßige Besitzer.“

Das Dorfkomitee geht vor Gericht. Doch im Gericht sitzen die Freunde der parteigelenkten Kreisregierung. Von den Hunderten Hektar Land kann Wukan nur einen kleinen Bruchteil zurückgewinnen. Wieder sammelt sich eine Menschenmenge. „Und, hat das Komitee das getan, wozu wir es gewählt haben? Haben wir unser Land wieder?“, klagt eine ältere Frau. „Nichts haben sie getan!“, sagt ein Mann. Es wird über die neuen Komiteemitglieder gesprochen wie über die alten: „Die reden nicht mehr mit uns!“ „Immer nur Ausreden und Lügen!“ „Gebt uns das Land zurück! Sonst werden wir nicht mehr freundlich sein!“ Die Leute stürmen das Büro des stellvertretenden Vorsitzenden. Dort sitzt Ruichao auf dem Sofa und setzt Tee auf. „Seid ihr noch auf der Seite der Dorfbewohner?“, fragt ein wütender Gast. Ruichao antwortet: „Es ist komplizierter, als ihr denkt.“

Die neuen Dorfpolitiker verdienen so gut wie nichts und müssen sich dennoch als korrupt beschimpfen lassen

Zhang Jianxing, 23, war der jüngste unter den Revolutionären. Als die Bewohner ihr Dorf verriegelten, filmte er und dokumentierte den Aufstand. Seit das gewählte Komitee an der Macht ist, macht er die Öffentlichkeitsarbeit der Dorfregierung. Eigentlich fühlt er sich aber als Journalist und weiter der Stimme des Volkes verpflichtet. Er schreibt auf Weibo, dem chinesischen Twitter, über die Unzufriedenheit und die ersten Risse. Er versucht, unparteiisch zu sein. Der Komiteevorsitzende ist außer sich. „Willst du uns schaden?!“, schreit er. Einige Bewohner befestigen ein Banner aus weißem Stoff, der in China bei Beerdigungen verwendet wird, am Rathaustor. Darauf steht: „Das neue Komitee ist nutzlos und soll sich verpissen.“ Im Oktober 2012, sieben Monate nach den Wahlen, tritt das erste Komiteemitglied zurück.

Ruichao ist Wirtschaftsbeauftragter, Komiteevertreter, Sachbearbeiter, Mediator und Psychotherapeut in einer Person. Die Leute fangen aus Frust über den Landmangel an, nachts illegal zu bauen, Ruichao bleibt nichts anderes übrig, als die Häuser wieder abreißen zu lassen. Zu Hause installiert er eine Sicherheitskamera vor der Tür. Ihm kommen Zweifel: Die Menschen wollen keine Demokratie, denkt er, sie wollen nur ihr Land.

Die Mitglieder der Dorfregierung geraten immer mehr unter Druck, gleichzeitig können sie kaum überleben: Der Vorsitzende Lin hatte in den ersten Amtstagen beschlossen, das Gehalt der Komiteemitglieder, umgerechnet 190 Euro im Monat, nicht anzuheben. Die früheren Kader kamen mit dem mickrigen Betrag aus, sie hatten ja ihre illegalen Nebeneinkünfte. Doch die Neuen haben sich geschworen, sauber zu bleiben. „Ich verdiene ein Fünftel dessen, was ich früher im Monat zur Verfügung hatte“, sagt Ruichao resigniert. „Trotzdem muss ich mir anhören, ein korruptes Arschloch wie mein Vorgänger zu sein.“

Es ist nicht nur die Ungeduld der Bürger, die das demokratische Experiment fast zum Scheitern bringt. Es ist auch die Partei, die nie aufgehört hat, die Ereignisse in Wukan zu beobachten und zu beeinflussen. Dem Journalisten Jianxing, der die Welt über soziale Medien aus Wukan informiert, hat man inzwischen seinen Pass abgenommen. Er darf China nicht mehr verlassen. Beamte der Staatssicherheit, der höchsten Überwachungsbehörde für politische Delinquenten, haben ihn mehrmals zum „Teetrinken“ aufgesucht. „Teetrinken“ ist der chinesische Ausdruck für ein Verhör. Inzwischen hat Jianxing einen Laden eröffnet, er verkauft Überwachungskameras. Eine Marktlücke – jetzt, da sich die Leute im Dorf gegenseitig nicht mehr trauen.

Zwei Fußminuten entfernt sitzt Ruichao im Rathaus und betrachtet sein eingeschlagenes Bürofenster. Er denkt über die nächsten Wahlen nach, im März 2014 stehen sie an. Kürzlich war er mit einem Parteikader essen, den die Kreisregierung als „Komiteeberater“ geschickt hatte. Der gab ihm bei Austern und Hummer zu verstehen, dass die Bürger ihr Land nicht mehr zurückbekommen werden – und dass man auch anders könne, wenn nicht bald Ruhe einkehre. Ruichao hörte zu und sagte kein Wort. „Ich fühle mich wie das Fleisch in der Mitte eines Hamburgers“, sagt er. „Eingeklemmt von oben und von unten.“

Zweimal hat er bereits an seiner Rücktrittserklärung gearbeitet, zweimal hat er das Dokument wieder von seinem Computer gelöscht. In den letzten Tagen hat er ein neues Schreiben aufgesetzt. Einige Projekte will er noch zu Ende bringen. Die Hafenmole, den Park. Die Wahlen im nächsten Jahr? Wer weiß, ob noch Leute zur Wahl gehen werden. Wer weiß, ob die Wahlen überhaupt stattfinden. Nur eines weiß Ruichao sicher: Er wird sich nicht mehr als Kandidat aufstellen lassen. Am Tag nach unserem Interview nimmt der stellvertretende Komiteevorsitzende von Wukan Urlaub und fährt mit dem Bus nach Shenzhen. In der Fabrikmetropole will Ruichao alte Bekannte treffen. Nur für den Fall, dass er wieder ins Handygeschäft einsteigt.