Efraim Zuro  macht trotzdem weiter: Keiner der Täter solle seinen Lebensabend genießen. Er sei es den Opfern des Holocaust schuldig

Das Hauptquartier des Nazi-Jägers ist eine unscheinbare Vier-Raum-Wohnung im Jerusalemer Stadtteil Talbieh. Ordner an Ordner mit Informationen über Kriegsverbrecher drängen sich in den Regalen. Im Archiv, in der Kaffeeküche, hinter der Tür im Badezimmer. Es ist ein bescheidenes Büro für eine Tätigkeit von solcher Tragweite: Efraim Zuroff, 64, versucht von hier aus die letzten Nazi-Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs vor Gericht zu bringen. Seit über 30 Jahren durchforstet Zuroff Archive, interviewt Augenzeugen und legt Dossiers an. Aber in den letzten Jahren kämpft er nicht mehr nur gegen unwillige Regierungen, sondern auch gegen die Zeit. Täter wie Opfer sterben.

Im Jahr 2002 startete das Simon-Wiesenthal- Zentrum deswegen die „Operation Last Chance“: „Gesucht werden NS-Verbrecher, die bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Mörder laufen frei herum und genießen ihren Lebensabend.“ Für Hinweise, die zur Verurteilung und Bestrafung führen, setzte das Zentrum 10.000 US-Dollar Belohnung aus. Im Dezember letzten Jahres startete das Projekt „Operation Last Chance II“, das speziell auf Personen abzielt, die in den Konzentrationslagern und Einsatzgruppen „gedient“ haben. Hier werden Informationen, die zur Verurteilung und Bestrafung dieser Verbrecher führen, mit bis zu 25.000 US-Dollar belohnt. Zuroff lehnt sich weit zurück in seinem Bürostuhl. Neben dem Tisch liegt ein Stapel ausgedruckter Artikel über seine Arbeit; hinter ihm hängt gerahmt der Titel der „New York Post“ vom Tag der Kapitulation der Deutschen: „Nazis Quit!“ Nazis geben auf.

Der Nazi-Jäger trägt ein blau-weißes Hemd, Kippa und eine randlose Brille. Sein Englisch ist schönster Brooklyn-Singsang. Dort wächst er in den 50erund 60er-Jahren auf. Zu Hause ist der Holocaust kein Thema: Die Gedanken sind auf die Zukunft gerichtet. Doch als er zwölf Jahre alt ist, fasst der israelische Geheimdienst Mossad Adolf Eichmann, der für die fabrikmäßige Ermordung von sechs Millionen Menschen verantwortlich war. In Jerusalem kommt Eichmann vor Gericht, der Prozess wird im TV übertragen. Zuroffs Mutter ruft ihren Sohn vor den Fernseher. „Das musst du sehen“, sagt sie. Es ist ein erster Einblick in den Horror der Geschichte. Später studiert Zuroff in Jerusalem. Er beschäftigt sich eingehend mit dem Holocaust und schreibt darüber seine Doktorarbeit. Als die Amerikaner in den 70er-Jahren beginnen, eingewanderte Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, arbeitet Zuroff als Mann in Israel für das „Office of Special Investigations“. Er recherchiert in den Archiven von Yad Vashem, der nationalen Gedenkstätte – und ist enttäuscht. Es gibt zu wenig konkrete Hinweise auf die Täter.

Oft wird ihm gesagt: Lass die alten Männer in Ruhe

Ein Kollege macht ihn schließlich auf den ITS aufmerksam, den Internationalen Suchdienst. Die Zentrale befindet sich zwar in Bad Arolsen, doch Yad Vashem ist im Besitz von Kopien auf Mikrofilm. „Es war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Zuroff und klatscht in die Hände. „16 Millionen Karteikarten; da waren einfach alle aufgelistet, sogar samt Ausreiseziel.“ Eine Goldmine, sagt Zuroff, die seine Arbeit erst möglich gemacht habe. Seit das Zentrum die „Operation Last Chance“ gestartet hat, haben fast 4.000 Leute mit Informationen bei Zuroff angerufen. Doch aus dem ganzen Wust seien gerade mal sechs ernsthafte Fälle hervorgegangen. Und selbst wenn die Täter identifiziert sind, selbst wenn die Beweislage eindeutig ist – eine Garantie für einen Prozess oder eine Verurteilung gibt es nicht.

Oft fehlt einfach der politische Wille. Zuroff erklärt es gerne so: „Um einen Serienmörder zu fassen, werden alle Ressourcen genutzt. Weil er jederzeit wieder zuschlagen kann. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein 90-jähriger Kriegsverbrecher einen Mord begeht? Also sitzen manche Regierungen die ganze Problematik einfach aus.“ In solchen Momenten nimmt der Nazi-Jäger das Heft selbst in die Hand, taucht mit Fernsehteams vor den Häusern von Kriegsverbrechern auf, gibt Pressekonferenzen. Politiker versucht er zu neuen Gesetzen zu bewegen. „Ich muss mir sehr oft anhören, dass ich es einfach sein lassen soll. Die Täter sind zu alt, bla, bla. Aber was damals in England vor sich ging, war einfach unglaublich. Solch ein Mist!“

Zuroff erzählt von der Debatte im House of Lords und wie das Gesetz zweimal abgelehnt wurde. Zuroff senkt die Stimme und versucht einen der Gegner zu imitieren: „Das ist jüdische Gerechtigkeit, aber wir sind ein christliches Land.“ Alte Säcke seien das gewesen, schimpft Zuroff. Kritik kommt allerdings auch aus anderen Ecken. Micha Brumlik zum Beispiel, der ehemalige Leiter des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust, nannte das Aussetzen einer Belohnung für Hinweise „denunziatorisch und moralisch unsauber“. Ein Fall, der illustriert, wie nah Erfolg und Misserfolg beieinanderliegen, ist der des ungarischen Offiziers Sándor Képíró. 1942 ist Képíró an einem Massaker an Juden, Serben und Roma beteiligt. Képíró wird verurteilt, kann aber im Kriegschaos nach Argentinien fliehen. Jahrzehnte später kehrt er nach Ungarn zurück und lässt sich gegenüber einer Synagoge nieder.

Im Jahr 2005 bekommt Efraim Zuroff Informationen zugespielt und erhärtet diese vor Ort. Er reicht das Dossier an die Behörden weiter. Zunächst passiert jahrelang nichts, doch dann kommt Képíró schließlich vor Gericht. „Was für ein Erfolg“, sagt Zuroff, „es war unglaublich, das erste Verfahren seiner Art in Ungarn.“ Zuroff war sich seiner Sache sicher, sogar seine Frau nimmt er mit in den Gerichtssaal. „Ich wollte, dass sie diesen großen Sieg sieht“, sagt Zuroff, „aber am Ende war es einer der schlimmsten Tage meines Lebens.“ Képíró wird freigesprochen. Jedes Jahr gibt das Jerusalemer Büro des Wiesenthal- Zentrums einen Statusreport samt einer Liste der meistgesuchten Verbrecher heraus. Auf dieser befindet sich auch Dr. Aribert Heim. Heim war Arzt in den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen und Mauthausen. Häftlingen hat er Organe entnommen und Benzin ins Herz gespritzt. „Der Schlächter“, sagt Zuroff und holt einen von fünf Ordnern zu diesem Fall aus dem Regal. Zuroff folgte Hinweisen in Südamerika und Spanien – ohne Erfolg. 2009 dann erhalten das ZDF und die „New York Times“ Informationen, dass Heim 1992 in Kairo gestorben sein soll.

Zuroff klappt den Ordner wieder zu und stellt ihn ins Regal. „Ich bin nicht überzeugt“, sagt er. Doch der Nazi-Jäger weiß auch, dass seine Arbeit zu Ende geht. Ein bisschen ist er schon neidisch auf den großen, berühmten, aber auch kritisierten Simon Wiesenthal, „der noch die richtig großen Nazis jagen konnte“. Wann also aufhören? Zuroff gibt zu, dass die Jagd selbst mehr von Misserfolg als Erfolg geprägt war. Allerdings ist es ihm dabei auch gelungen, das Gedenken an den Holocaust am Leben zu erhalten und Regierungen an ihre Verantwortung zu erinnern. Vielleicht ist das der wahre Erfolg und nicht die Anzahl der Verfahren. „Wenn man ein Mensch mit einer Mission ist“, sagt Zuroff, „dann ist es sehr schwer, diese Mission zu beenden.“