Klar gibt es aufgeklärte muslimische Männer, es gibt aber leider auch viele, die mit Frauenrechten wenig anzufangen wissen und dieser Gesellschaft ablehnend gegenüberstehen. Seyran Ateş ist eine deutsche Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin türkisch-kurdischer Herkunft und spricht mit uns ganz frei über ihre Zweifel und mögliche Lösungen des Problems.

Frau Ateş, Sie nennen sich selbst eine „deutsche Türkin“. Wie ist das zu verstehen?

Na ja, wenn man mich anschaut, sieht man, dass ich nicht blond bin, keine blauen Augen habe, keine Urdeutsche bin. Gleichzeitig bin ich aber urdeutsch, bin hier zur Schule gegangen, habe deutsches Recht studiert. Diese Identität ist aber nicht sichtbar, deshalb muss man sie manchmal benennen. Mein Vater ist Kurde, meine Mutter Türkin. Ich habe einen deutschen Pass und hatte auch eine türkische Staatsangehörigkeit, die ich aber abgegeben habe. Ich habe also eine türkische und eine deutsche, also eine transkulturelle Identität. Und irgendwie muss man das ja benennen, obwohl es mir eigentlich nicht wirklich gefällt, weil ich mich als Weltbürgerin verstehe. 

In Ihrer Kindheit haben Sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man die deutsche Sprache nicht versteht und in der Familie ein anderes Werte- und Rollenbild existiert als in der umgebenden Gesellschaft. Wie kann Integration unter solchen Vorzeichen gelingen?

Die Schule war für mich ein ganz wichtiger Ort. Ich habe schon sehr früh ein politisches Bewusstsein entwickelt und mich gegen Ungerechtigkeiten starkgemacht. Ich war Schulsprecherin und lernte, dass es Rechte für uns als Schüler gibt. Die Schule war die einzige Chance und der einzige Ort, an dem ich ein anderes Lebensmodell kennengelernt habe. Dort bin ich in der deutschen Gesellschaft angekommen. Zum Beispiel war es kein Problem, dass Lehrer und Lehrerinnen miteinander Kontakt hatten, befreundet waren, ein entspanntes Verhältnis zu-einander hatten. Zu Hause lebten wir sehr traditionell mit einem rigiden Rollenverständnis: Meine Brüder durften rausgehen, Freundinnen haben. Bei mir war das alles nicht erlaubt. Wir standen unter der sozia-len Kontrolle der gesamten Verwandtschaft. Sicher gibt es andere, modernere und gebildetere Familien, aber meine Eltern waren einfache Gastarbeiter, die sehr konservativ waren – und das ist sicher die Mehrheit in Deutschland. 

Wie haben Sie diese unterschiedlichen Welten zusammenfügen können?

Indem ich mir gesagt habe: Ich möchte so frei leben wie diese Deutschen. Mein Ziel war es, mit 18 von zu Hause wegzugehen, um genauso selbstbestimmt zu leben. Ich wollte auf keinen Fall eine türkische Hochzeit feiern, einen Mann heiraten, den ich nicht will. Ich wollte nicht, dass andere über mein Leben entscheiden. Das führte natürlich zu einem Riesenkonflikt. Zehn Jahre hat es gedauert, bis meine Eltern verstanden haben: Ihr Kind wollte einfach nur studieren, Anwältin werden, ins Theater und Kino gehen, frei leben. Für meine Eltern bedeutete eine gesellschaftliche Teilhabe bei Mädchen immer nur Hurerei.

In Berlin leben im Stadtteil Kreuzberg Tausende Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei kamen. Funktioniert dort das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen Ihrer Meinung nach?

Für mich sind das Parallelgesellschaften: Da leben Menschen in Deutschland, die für sich ihre eigene Welt aufgebaut haben und den Rest des Landes gar nicht kennen. Noch nicht einmal die eigene Stadt. Die nie am Brandenburger Tor oder auf dem Fernsehturm waren oder andere Seiten der Stadt kennen. Kreuzberg ist für mich nicht multi-, sondern monokulturell arabisch oder türkisch. Das finde ich bedenklich, weil ich das Unglück vieler Menschen sehe. Es existiert teilweise eine Art Gefängnis für Frauen und Kinder, die nicht allein ohne Männer auf die Straße gehen dürfen. Ich kenne viele dieser Frauen, weil sie meine Mandantinnen sind. 

Welche Fehler sind gemacht worden? 

Man hat keine vernünftige Wohnungsbaupolitik betrieben und diese mit Integrationsarbeit verbunden. Es geht nicht nur um Deutschunterricht, sondern auch um Wohnungen und Arbeitsplätze – all das muss einbezogen werden. Die Frage ist doch: Wie schafft man es, dass Menschen Anteil an dem Leben hier nehmen, sich nicht ausgeschlossen fühlen oder selbst ausschließen? 
Meine Eltern haben erst im Wohnheim und dann mit uns fünf Kindern in einer Einzimmerwohnung gelebt. Denn keiner wollte Gastarbeiter, man hat uns in bestimmte Bezirke gedrängt und uns Rattenlöcher ohne Bad und warmes Wasser vermietet. Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, den Gastarbeitern ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu ermöglichen.

Brauchen wir in den deutschen Schulen Islamunterricht? 

Wir brauchen keinen konfessionellen Unterricht, aber eine Wissensvermittlung aller Religionen an der Schule. Das heißt, nicht nur Islamunterricht für die muslimischen Kinder, sondern auch evangelischen, katholischen, jüdischen und so weiter. Und umgekehrt brauchen wir für die christlichen Schüler auch den islamischen Unterricht. Damit alle Kinder etwas über ihre eigene, aber auch über andere Religionen lernen, um festzustellen, was sie voneinander unterscheidet. Zudem müssen unsere Kinder auch lernen, dass es ein Recht auf Atheismus, also nicht zu glauben, gibt. So entsteht Toleranz anstelle von Vorurteilen. Und es kann verhindert werden, dass auf dem Schulhof Religionskriege und Konflikte geführt werden: Aleviten gegen Sunniten, Kurden gegen Türken … Es braucht sehr viel mehr aktive Arbeit, die sich mit den unterschiedlichen Identitäten auseinandersetzt. 

Welche Rolle spielen die islamischen Verbände bei der Integration?

Eine große, aber meiner Meinung nach haben sie in den letzten Jahrzehnten keine besonders gute Performance gezeigt. Ich war drei Jahre Mitglied der Islamkonferenz. In der Zeit arbeiteten sich die Verbände immer nur am Kopftuch ab und daran, dass wir Einzelpersonen die Muslime nicht repräsentieren: Ist das Kopftuch ein religiöses Gebot oder nicht? Themen wie Ehrenmorde und Zwangsheirat sollten dagegen nicht in die Öffentlichkeit dringen. Noch heute vermitteln die meisten Imame und Verbände eher das Abstandhalten zu den Deutschen. Es heißt: Assimiliert euch nicht! Passt auf, dass euch die Deutschen nicht zu Christen machen! Dass ihr keine ungläubigen Schweinefleischfresser werdet! Die Verbände sind meines Erachtens nicht wirklich interessiert an Integration, sondern an der Aufrechterhaltung von Parallelgesellschaften. Denn nur so haben sie Macht und Kontrolle über ihre Mitglieder. Die toleranten und weltoffenen Imame haben leider keine Chance. 

Seit etwas mehr als einem Jahr können Kinder von Migranten, die nach 1990 in Deutschland geboren wurden, dauerhaft zwei Staatsbürgerschaften haben. Halten Sie das für richtig? 

Ich habe nur den deutschen Pass – das war allerdings eine politische Entscheidung. Die Türkei ist für mich eine Diktatur. Wenn ich mich dort aufhalte, möchte ich von Deutschland beschützt und, wenn nötig, zurückgeholt werden. Ansonsten sollte es meiner Ansicht nach überhaupt keine Grenzen geben, sodass statt einer doppelten gar keine Staatsangehörigkeit nötig ist. Ich bin gegen nationalistisches Denken, das ist für mich das größte Übel. Wenn aber Kinder von Migranten zwei Pässe wollen, weil sie beide Identitäten besitzen, warum nicht? Bloß haben sie dann auch die doppelten Verpflichtungen und die Verantwortung für beide Länder.

Gerade Frauenrechte sind in manchen islamisch geprägten  Ländern schwer zu vermitteln. Wie sollte die Gesellschaft mit jungen muslimischen Männern umgehen, die Frauen nicht als selbstbestimmte Wesen anerkennen?

Der Sohn ist oft der Prinz in muslimischen Familien, bei dem großen Beschneidungsfest wird der Pimmel gefeiert. Bei den Mädchen ist dagegen alles Sünde, ihr Körper muss verhüllt werden. Wenn man in solchen Verhältnissen groß wird, kann man gar nicht anders, als sich abwertend gegenüber Frauen zu verhalten. Außerdem denkt die Mehrheit so – auch die Frauen. Nicht der Islam unterdrückt die Frauen, es sind beide Geschlechter, die das Patriarchat tragen. Man kann nicht nur die Männer in die Verantwortung nehmen. Natürlich müssen junge frauenfeindliche Muslime geächtet und abgelehnt werden. Genau dieses Verhalten haben wir in Deutschland ja überwunden. Ich bekämpfe das Patriarchat und nicht den Moslem und den Islam. Mein Engagement geht gegen die Geschlechterapartheid in der offenen Gesellschaft, die es übrigens auch bei Christen oder Juden gibt. Und wir dürfen nicht übersehen, dass es auch couragierte muslimische Männer gibt, die sagen: So ein Mann bin ich nicht. 

Halten Sie es für möglich, dass der Islam und sein Verhältnis zur Sexualität revolutioniert werden können?

Ich bin der festen Überzeugung, dass der Islam eine sexuelle Revolution braucht. Die muslimischen Gesellschaften von Marokko bis Indonesien sind in ihrer Sexualmoral sehr rigide und stark tabuisiert. Dadurch ist Sexualität im Alltag unglaublich präsent. Selbst wenn die Frauen verschleiert sind und man nur ihre Augen erkennt, sind sie sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Jede Berührung oder jeder Blick kann bei den Männern ein sexuelles Verlangen auslösen. Aus völlig natürlichen Dingen wird etwas Perverses gemacht – das dürfen wir nicht akzeptieren.

Wir leben in einer Zeit, in der viele muslimische Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Das bedingt auch eine Zunahme an Vorurteilen: Migranten würden klauen, wollten nicht arbeiten, schlügen ihre Frauen. Wie kann zu einer differenzierteren Haltung beigetragen werden? 

Diese Vorurteile gibt es, aber wir können nur gemeinsam dagegen ankämpfen. Es braucht eine vernünftige Integrationspolitik in dieser globalisierten Welt. Wir müssen akzeptieren, dass wir ein Einwanderungsland sind. Dazu gehören ein Einwanderungsgesetz und Bildungskonzepte, die Kinder direkt in den Schulen integrieren. Wir müssen eine neue Identitätsbildung schaffen. Es ist eine Generation der „third culture“ entstanden. Die ist nicht mehr nur deutsch und türkisch, sondern bedeutet eine Mischung der transkulturellen Identität. Und wir müssen uns fragen: Wie können wir diese jungen Menschen aufwerten und ihnen Chancen im Arbeitsmarkt und im gemeinsamen Leben ermöglichen?

Sehen Sie schwarz für das Zusammenleben in Deutschland?

Nein, im Gegenteil. Die Globalisierung bringt es mit sich, dass sich die Welt verändert. Früher haben wir es nicht für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg endet oder die Mauer fällt – und jetzt? Veränderungen bringen offene Gesellschaften wie Deutschland nur voran. Selbst wenn Menschen hierherkommen, die mit unserer Demokratie nicht zurechtkommen. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen zu zeigen: Hier wird Schweineschnitzel gegessen, aber das verletzt euch nicht. Wir feiern Weihnachten, aber deshalb wirst du kein Christ. Integration ist zu schaffen, wenn man es will. Und wenn man Toleranz fördert.