Algerien war Frankreichs älteste und größte Kolonie. Bereits ab 1830 hatte seine Eroberung begonnen. Im Gegensatz zu anderen kolonialen Besitztümern wurden Teile Algeriens 1848 territorialer Bestandteil Frankreichs. Auf dem Papier waren die Algerier somit Bürger der Französischen Republik, de facto aber hatten sie nicht die gleichen Rechte wie die französischen Siedler, die in Frankreich „pieds-noirs“ genannt wurden – Schwarzfüße. Als der Kampf um die Unabhängigkeit ausbrach, dauerte es in Paris lange, bis man sich überhaupt vorstellen konnte, dass die Algerier nicht mehr zu Frankreich gehören wollten.
Ein Schlüsseldatum des Konflikts war der 8. Mai 1945. Während weltweit das Kriegsende in Europa gefeiert wurde, forderten Algerier, die an der Seite der Franzosen in den Truppen der „France libre“ gegen die Nazis gekämpft hatten, ihre Unabhängigkeit: „Nieder mit dem Faschismus und dem Kolonialismus“ stand auf ihren Bannern. Es kam zum Schusswechsel mit der Polizei. Die französischen Besatzer reagierten in den folgenden Wochen mit extremer Gewalt. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt. Französische Historiker schätzen sie auf 10.000 bis 15.000, algerische vermuten bis zu 45.000 Tote. 1954 eskalierte der Konflikt zwischen rund einer Million französischen Siedlern und damals etwa acht Millionen Algeriern erneut.
„L’Algérie, c’est la France“ – Algerien ist Frankreich –, behauptete der junge Innenminister François Mitterrand 1954, doch damit verkannte er die Realität. Selbst die durch zusätzliche Soldaten, die Frankreich nach Algerien schickte, auf 500.000 Mann aufgestockten Truppen konnten den Widerstandsgeist der Algerier nicht mehr brechen. Siebeneinhalb Jahre tobte der Krieg, in dem brutale Folter und hemmungslose Exzesse zum Alltag gehörten und dem auch „pieds-noirs“ und moderate Muslime zum Opfer fielen. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt – und jede Schätzung ein Politikum. In Algerien spricht man von bis zu 1,5 Millionen. Französische Historiker bestreiten diese Zahl und gehen von 250.000 bis 500.000 getöteten Muslimen und etwa 28.000 französischen Soldaten und Zivilisten aus.
Mit den Friedensverträgen von Évian wurde der Krieg im März 1962 schließlich beendet und Algerien ein unabhängiger Staat. Rund eine Million „pieds-noirs“ verließen verbittert das Land und siedelten sich zumeist in Südfrankreich an. In den 1980er-Jahren gehörten viele von ihnen zu den ersten Unterstützern des Front-National- Politikers Jean-Marie Le Pen – der selbst im Algerienkrieg gekämpft hatte. Zurück blieben zunächst viele der „Harki“, jene Algerier, die mit den Franzosen zusammengearbeitet hatten. Sie waren der brutalen Vergeltung der Sieger ausgesetzt.
Die Association Internationale de la Diaspora Algérienne (AIDA) schätzt die Gesamtzahl der algerischstämmigen Franzosen und Algerier in Frankreich heute auf bis zu fünf Millionen. Für den Historiker Benjamin Stora bleibt die Erinnerung „auf beiden Seiten des Mittelmeers fiebrig und traumatisch“. Jean-Paul Mari, Reporter des Magazins „L’Obs“, kam zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens zum selben Schluss: „Hier wie auf der anderen Seite des Mittelmeeres ist Algerien ein kollektives Trauma, das man durch die Zeiten und die Generationen überträgt.“
Bis heute gebe es auf die meisten Fragen zum Algerienkrieg ebenso wenige Antworten wie zum Bürgerkrieg, der das Land von 1992 bis 2002 zerriss und der 1995 durch eine Anschlagswelle erstmals islamistischen Terror nach Frankreich trug. Die Groupe Islamique Armé (GIA) bekämpfte die algerische Militärregierung (nachdem diese 1991 den bevorstehenden Wahlsieg der islamistischen Partei FIS durch die Unterbrechung des Wahlprozesses verhindert hatte) und die ehemaligen Kolonialisten. Ihre Kämpfer ließ sie zum Teil in Afghanistan ausbilden. In Frankreich rekrutierte sie ihren Nachwuchs unter jungen Männern algerischer Abstammung. Einer der Ersten war Khaled Kelkal, der 1995 an der Anschlagsserie, die unter anderem auf die Pariser Metro verübt wurde, beteiligt war, bei der acht Menschen getötet und fast 200 verletzt wurden.
Die Bildungschancen und Zukunftsperspektiven der algerischstämmigen Bevölkerung sind nach wie vor deutlich schlechter als die der „Français de souche“ – der „Bio-Franzosen“. Die Arbeitslosigkeit ist signifikant höher, und in den Vorstädten dominiert das Gefühl der Ausgrenzung. Die fehlenden Zugangs- und Aufstiegsmöglichkeiten sind für viele abgehängte Vorstadtbewohner das Überbleibsel einer kolonialen Attitüde, der Ausdruck eines latenten Rassismus. Die Reaktion darauf ist unter anderem die Radikalisierung. So erlebt Frankreich seit den 1990er-Jahren die Ausbreitung des radikalen Salafismus – nicht zuletzt in den Gefängnissen, die mit ihrer hohen Zahl muslimischer Insassen mittlerweile zu Rekrutierungszentralen für Extremisten geworden sind.
Ebendiesen Parcours durchlief auch Mohammed Merah, jener Attentäter mit algerischen Wurzeln, der am 50. Jahrestag des Inkrafttretens des Waffenstillstands im Algerienkrieg, dem 19. März 2012, in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer erschoss. Für den Politologen Gilles Kepel, der den Islam und die Wurzeln des Radikalismus in Frankreich seit Jahren erforscht, war es bezeichnend, wie tief der Hass auf Frankreich in der algerischstämmigen Familie Merahs verwurzelt war. „Die koloniale Vergangenheit ist etwas, das wir immer noch nicht verdaut haben.“ Der Historiker Benjamin Stora sieht das ähnlich. „Der Algerienkrieg ist immer noch in den Köpfen, den Herzen, den Erinnerungen.“
Der Grund dafür, dass Frankreich das europäische Land ist, aus dem die meisten Dschihadisten kommen, sei, dass das Land das „am wenigsten inklusive“ in Europa sei, ist Kepel überzeugt. In den Lebensläufen der radikalisierten Täter wie Mohammed Merah, der Brüder Kouachi oder Amedy Coulibaly erkennt er die „Rückkehr des verdrängten kolonialen Erbes“. Die Brüder Kouachi, die den Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ verübten, waren in Frankreich geboren. Ihre Eltern stammen aus Algerien. Amedy Coulibalys Eltern stammten aus Mali. Zwei Tage nach dem Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ überfiel Coulibaly in Paris einen koscheren Supermarkt, nahm mehrere Geiseln und erschoss dabei vier Menschen. Die Brüder Kouachi hatte er Jahre zuvor über den algerischen Islamisten Djamel Beghal alias Abu Hamsa kennengelernt, der Coulibaly im Gefängnis von Fleury-Mérogis radikalisiert hatte. Das ist der Verbindungspunkt zwischen den algerischen Terroristen von 1995 und den Dschihadisten von heute. Denn Beghal versuchte 2005, Smaïn Aït Ali Belkacem aus dem Gefängnis zu befreien. Der gilt als einer der Hauptverantwortlichen der Anschlagsserie, mit der die GIA Frankreich inmitten des algerischen Bürgerkriegs 1995 erschütterte.
Ebenfalls algerische Wurzeln hatten einige der in Frankreich geborenen Attentäter, die am 13. November 2015 in der Konzerthalle Bataclan, in Bars und in Cafés mehr als 100 Menschen töteten. „Frankreich wird immer noch angegriffen von den wütenden und enteigneten Erben des kolonialen Projektes“, sagt der britische Kulturgeschichtler Andrew Hussey, der seit Langem in Frankreich lebt und die ehemaligen Kolonien in Nordafrika ebenso intensiv bereist hat wie die Banlieues von Paris und Lyon. Eines seiner Bücher trägt den Titel „The French Intifada. The Long War Between France and its Arabs“. Frankreich, so Husseys These, habe bis heute nicht verstanden, dass der Krieg nicht beendet sei. Und solange Frankreich das nicht erkenne, werde der Krieg weitergehen, werden die Verdrängten zurückkehren; mit dem Schlachtruf „Na’al abouk la France“ – Fuck France.