Michaela Plaumann* müssen ein paar Zähne gezogen werden. Für sie ist das nicht sehr erfreulich, mal abgesehen von den Schmerzen. Denn irgendwie muss sie anschließend das Geld für die neuen Zähne aufbringen. 1.900 Euro Eigenanteil bleiben nach den Zahlungen der Versicherung noch an ihr hängen. „Ich habe Angst, zum Arzt zu gehen, wegen der Kosten. Aber ohne Zähne will ich auch nicht dastehen“, erzählt die 38-Jährige in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer mit der Schrankwand, dem mit Decken eingeschlagenen Sofa und dem Couchtisch aus Stein in der Mitte. Am Nachmittag will sie mit ihrem Zahnarzt über eine Ratenzahlung sprechen, um die Zähne bei ihm abstottern zu können. Wahrscheinlich jahrelang.

Die Familie aus Herford wirkt erst mal wie eine ganz normale Familie: Stephan Plaumann, 39, arbeitet als Textilmaschinenführer in dem Unternehmen, in dem er vor 21 Jahren auch schon seine Ausbildung gemacht hat. Seine Frau Michaela kümmert sich um die drei Kinder – die zwei älteren Töchter aus ihrer ersten Ehe und den gemeinsamen neunjährigen Sohn –, außerdem um die schwerbehinderte Mutter. Um sie zu pflegen und weil sie selbst krank geworden war, hat Michaela Plaumann vor ein paar Jahren aufgehört zu arbeiten. Nun reicht das Geld einfach nicht zum Leben. Zumindest nicht für ein Leben, in dem man seinen Kindern einfach mal ein Eis spendieren kann, ohne vorher die finanziellen Folgen im Kopf zu überschlagen.

Etwa 1.200 Euro netto verdient Stephan Plaumann mit seinem Vollzeitjob im Schichtdienst. Jeden Tag fährt er mit dem Fahrrad zur Arbeit. Früh, spät oder nachts. An ein Auto ist nicht zu denken. Vor vier Jahren hat er seinen Meister gemacht, in der Hoff nung, ein bisschen mehr zu verdienen. Schließlich zahlt er jeden Monat auch noch über 360 Euro Unterhalt für ein uneheliches Kind. Doch mehr Geld gab es für ihn nicht. „Es ist schlimm, mit anzusehen, wie sich die Lohnspirale immer weiter nach unten schraubt. Wie Einkommen durch Teilzeit-, Kurz- und Leiharbeit, Niedriglöhne und eine schlechtgeredete Wirtschaftslage massiv gedrückt werden. Es kann doch nicht sein, dass man trotz Vollzeitbeschäftigung auf staatliche Zuschüsse angewiesen ist“, sagt er.

Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland bekam 2010 laut Statistischem Bundesamt weniger als 10,36 Euro in der Stunde und somit nur einen Niedriglohn. Besonders hoch war der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglohn bei Taxifahrern und Friseuren. 1,36 Millionen Erwerbstätige bezogen nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Mitte 2011 zusätzlich Hartz IV. „Aufstocker“ nennt man sie umgangssprachlich. Über 330.000 von ihnen hatten laut DGB einen Vollzeitjob. Die Gewerkschafter kritisieren: „Gut zwei Milliarden Euro pro Jahr muss der Bund (...) über Hartz IV jährlich aufwenden, um Geringverdienern mit Vollzeitjobs ein gesellschaftliches Existenzminimum zu garantieren. Der Staat subventioniert so auch Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zu Hungerlöhnen beschäftigen.“ Die Befürworter der Hartz-Reformen verteidigen sich: Es sei doch besser, man arbeitet zu einem geringen Verdienst, als gar nicht.

Die Plaumanns bekommen momentan kein Hartz IV mehr, sondern 86 Euro Wohngeld im Monat. Das ist eine „vorrangige Leistung“, wie es auf Amtsdeutsch heißt. Genau wie der Kinderzuschlag, den man bekommt, wenn die Mindesteinkommensgrenze erreicht und die Höchsteinkommensgrenze nicht überschritten wird. Unterhalb des gesetzlich vorgesehenen Mindestbedarfs gibt es die Aufstockung durch Hartz IV. Das bekam Familie Plaumann zuletzt 2008. Da ihr Einkommen durch die verschieden berechneten Arbeitsschichten des Vaters aber ständig schwankt und die Kalkulation des Amtes daher nicht stimmte, zahlt die Familie die komplette Leistung seit 2010 jeden Monat mit 25 Euro zurück. Genauso den Kinderzuschlag: Wegen einer Weihnachtsgeldzahlung vom Arbeitgeber ihres Mannes forderte das Amt 1.650 Euro wieder ein. „Ich beantrage so etwas nicht mehr, ich muss ja sowieso alles zurückzahlen. Wir sind immer genau an der Grenze. Das reißt unwahrscheinlich an den Nerven“, sagt Frau Plaumann. Sie fühle sich auch deshalb arm, weil sie mit ihrer Familie so wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Demütigend sei es, als Familie mit Einkommen zum Amt gehen zu müssen. „Das ist wirklich ein scheiß Gefühl.“

Am Ende des Monats wird geschaut, ob noch mal Fleisch auf den Tisch kommt

In der Evangelischen Diakoniestiftung in Herford betreut die Diplom-Sozialarbeiterin Silke Penno Menschen mit Fragen zur Existenzsicherung, auch Michaela Plaumann kommt zu ihr. Wenn sie ein Schreiben nicht versteht oder Fragen zu den Abzahlungen hat. „Es ist häufig der Fall, dass wir Menschen betreuen, die von ihrer Erwerbstätigkeit nicht leben können. Teilzeit- und Kurzzeitarbeit, keine anschließende Weiterbeschäftigung, dazu Wohngeld oder Arbeitslosengeld II: Diese Zerstückelung macht es für Familien hochkompliziert, mit dem Geld zu wirtschaften“, sagt sie. Viele würden in einen Dauerstress verfallen: Reicht das Geld im Monat? Und vor allem: Was kommt noch? Wenn zum Beispiel der Kühlschrank kaputtgeht. „Das ist ein ständiges Kalkulieren.“

Ihre Kollegin Doris Gerlach hat die Plaumanns ebenfalls über viele Jahre begleitet, sie arbeitet seit 26 Jahren in der Beratungsstelle. Den Sozialstaat Deutschland hält sie für viel zu bürokratisch. „Dieser Verwaltungsaufwand, der da betrieben wird! Es wird nicht schnell genug reagiert, und es ist ein Unding, dass Familien ständig zu viel oder zu wenig ausbezahlt wird“, sagt sie. Familie Plaumann tat ihr immer leid. Oft warteten sie zusammen sechs Monate darauf, dass ihre Anträge bearbeitet wurden. „Furchtbar war das. Wir hatten immer mit dem System zu kämpfen.“

Wenn Stephan Plaumanns Gehalt kommt, setzt sich die ganze Familie an den Tisch und rechnet. Welche Kosten stehen in diesem Monat an? „Dann schauen wir, was übrig bleibt. Wir gehen ein Mal groß einkaufen im Discounter. Am Ende des Monats entscheiden wir, ob noch mal Fleisch auf den Tisch kommt oder nicht.“ Urlaub machen sie bei der Schwiegermutter in Niedersachsen. Gespartes gibt es nicht. „Wir können nicht so in unsere Kinder, in ihre Bildung und Zukunft investieren, wie es wünschenswert wäre. Wir sind auch nicht in der Lage, für unsere Rente privat vorzusorgen, wie es vom Staat gefordert wird“, sagt Stephan Plaumann.

Was treibt ihn eigentlich an, überhaupt noch arbeiten zu gehen, morgens um fünf zur Frühschicht zu radeln, wenn es am Ende doch nicht reicht? Frau Plaumann sagt, ihrem Mann gehe es um seine Ehre, er wolle nicht als Schmarotzer abgestempelt werden. Auch sie will unbedingt wieder arbeiten, sobald der Sohn auf der weiterführenden Schule ist. „Arbeit ist das A und O“, sagt Herr Plaumann überzeugt. Hartz IV sei keine Alternative. Nur wenn er seinen Kindern vorlebe, was es bedeute, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, bringe er sie auf den richtigen Weg. „Vielleicht wird meine Weiterbildung zum Industriemeister ja irgendwann doch noch honoriert“, sagt er hoffnungsvoll. Bis dahin rechnen die Plaumanns weiter. Monat für Monat. Immer an der Grenze.

*Namen von der Redaktion geändert