„Um das Recht zu verstehen, muss man meine Bücher lesen“, hatte Uwe Wesel am Ende unseres Gesprächs noch gesagt – natuürlich im Scherz. Aber so ganz unrecht hat er ja nicht. Mit „Geschichte des Rechts“ hat Wesel einen echten Klassiker geschrieben und neulich mit dem Werk „Geschichte des Rechts in Europa“ noch mal nachgelegt. Genau der Richtige für ein paar erste Fragen. 

fluter: Menschen gibt es seit rund zwei Millionen Jahren, gibt es auch das Recht schon so lange?

Wesel: Seit die Menschen existieren, gibt es Regeln. Menschliches Leben ohne Regeln, ohne Ordnungsfunktion und auch ohne gewisse Organisationsformen kann nicht funktionieren. Es hat Zeiten in der Geschichte der Menschheit gegeben, in denen die Verwandtschaft auch die gesellschaftliche Ordnung war. Da gab es noch keinen Staat, keine Herrscher, keine Häuptlinge, die die institutionalisierte Macht hatten.

Wann entstanden die ersten schriftlich niedergelegten Gesetze?

Die ersten, von Stadtfürsten proklamierten Gesetze gab es bereits im dritten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien. Dass aber nach Gesetzen entschieden wird, ist eine Erfindung der Griechen. Das entstand so um 300, 400 vor Christus. Die haben in Versammlungen von 201, 401 oder 501 Männern entschieden. Sokrates ist von 501 attischen Männern verurteilt worden. Die attische Demokratie war ja die radikalste, die wir je in der Welt gehabt haben. Vor 501 Männern können Sie nicht juristisch argumentieren. Da müssen Sie ein bisschen auf die Pauke hauen, da müssen Sie gut reden können. Die Römer haben den Juristen erfunden. Da gab es zunächst mal den Prätor, der gab eine gewisse Prozessformel vor, und der Judex hat dann nach dieser Formel entschieden. Wenn man vor einem Mann argumentiert, dann ist das ganz anders als vor 501. So ist also in Rom, etwa 500 vor Christus, der Jurist entstanden.

So wie wir ihn heute noch kennen.

Na ja, damals waren Juristen Adlige, das waren 1 von 2 steinreiche Männer. Männer, keine Frauen. Und das war ja lange so: Als ich 1953 angefangen habe zu studieren, da waren im Hörsaal von etwa 300 Studenten vielleicht 10 oder 20 Frauen, wenn’s hoch kam.

Kommen wir mal zum Grundgesetz. Es scheint das einzige zu sein, das nicht ständig veränderbar ist.

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Grundgesetz als Verfassung und der Verfassungswirklichkeit. Das Grundgesetz selber ist auch sehr flexibel; Sie ahnen nicht, wie oft das in den letzten 62 Jahren geändert worden ist, mindestens 50 bis 60 Mal. Das ist eine völlig berechtigte Rechtsfortbildung, die nach dem Grundgesetz auch erlaubt ist.

Nehmen wir mal das Grundrecht auf Asyl. Als Laie würde man doch sagen: Das gibt es nicht.

Das Asylrecht ist im Grundgesetz durch eine so lange Reihe von Vorschriften relativiert, dass man in der Tat sagen kann: Wir haben heute kein Asylrecht mehr.

Weil das ideelle Recht auf Unversehrtheit mit dem Recht einer Gesellschaft auf sozialen Frieden kollidiert?

Als der parlamentarische Rat 1949 das Asylrecht eingebaut hat in das Grundgesetz, da waren das Frauen und Männer, die aus der Erfahrung des Krieges gesagt haben: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass politisch Verfolgte – wie wir es zum Teil auch waren – hier bei uns Asylrecht bekommen. Diese Art von politischer Verfolgung, wie sie unter den Nazis stattgefunden hat, ist jetzt überlagert worden von der Angst, dass viele, denen es wirtschaftlich in ihrer Heimat schlecht geht, zu uns kommen. Dadurch entsteht die Angst, unser innerer Frieden könnte durch zu viele Fremde gefährdet werden.

Wandert eigentlich das Recht vom Staat zunehmend in die Gesellschaft, gibt es so etwas wie eine Rückübertragung?

Sicherlich, wir nennen das Mediation. Das bedeutet private Vermittlung, außergerichtliche Verhandlungen. Bei Eheleuten zum Beispiel, die sich scheiden lassen, ist es besser, wenn die Entscheidung nicht von oben kommt, weil die ja noch in irgendeiner Weise miteinander leben müssen. Das kommt aus den Stammesgesellschaften. In Afrika werden Konflikte heute noch durch Verhandlungen oder Palaver gelöst.

Was ist für Sie Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist für mich soziale Gleichheit. Das bedeutet z.B., dass nicht alle 50 Euro zahlen müssen, wenn sie beim zu schnellen Fahren erwischt werden. Sondern, dass derjenige, der wesentlich mehr verdient, auch mehr zahlt. Es muss ja schließlich allen gleich weh tun und nicht dem Armen mehr.

Den zweiten Teil des Interviews lest ihr auf Seite 30