33 Tage lebte die Utopie im niedersächsischen Wendland. Auf einer Waldlichtung in der Nähe von Gorleben versammelten sich am 3. Mai 1980 Hunderte von Menschen mit Holzbrettern, Sägen und Schaufeln und fingen an zu bauen. Baracken mit spitzen Dächern, Toilettenhäuschen, eine Krankenstation und einen Friseursalon. Sie verlegten Wasserleitungen, errichteten eine Radiostation und dachten sogar an eine vierstufige Mülltrennungsanlage. Den Bewohnern des neuen Zwergstaates sollte es an nichts mangeln. Die „Republik Freies Wendland“ war geboren, und die Bewohner sangen in ihrem Wendland-Lied: „Auf zum Widerstand, dieses Land ist unser Land / Wendland, nimm dein Schicksal in die Hand.“
In patenten Latzhosen zog damals auch Junglehrer Wolfgang Ehmke mit ein. Ein Hauch von 1968 wehte durch die Fantasierepublik, als er und die anderen Aktivisten den Politikern in Bonn ihre Vorstellung von politischer Selbstbestimmung zeigen wollten. Vor allem ging es aber darum, sich breitzumachen an der Stelle, wo geologische Probebohrungen für ein mögliches Atom-Endlager vorgenommen werden sollten. Ehmke und Co. stellten sich der Obrigkeit in den Weg, die entschieden zurückschlug: Am 4. Juni 1980 rückten Hundertschaften der Polizei und des Bundesgrenzschutzes mit Panzerfahrzeugen und Bulldozern gegen die Demonstranten an. Einen Tag später waren die Wendländer wieder Deutsche. Nach gut 30 Jahren machen sich nur noch Sträucher und Unkraut an der einst besetzten Tiefbohrstelle 1004 breit. „Aber der Geist der Republik ist auch heute noch zu spüren“, sagt Ehmke.
Dass dieser Geist noch wach ist, liegt auch daran, dass Gorleben auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Auseinandersetzung im Wald nach wie vor als Endlagerstandort im Gespräch ist. Außerdem rollen in regelmäßigen Abständen Züge mit Castor- Behältern durch den Landstrich, um den hochradioaktiven Müll in eine oberirdische Halle unweit des Bergwerks zu bringen. Daher hat der Widerstand der Bürger aus der Umgebung in all den Jahren nicht nachgelassen – ganz im Gegenteil. „Wir sind professioneller geworden“, sagt Ehmke, der als Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg die Protestarbeit vorantreibt. Dafür wühlt sich der 63-Jährige manchmal nächtelang durch wissenschaftliche und politische Dokumente, beantwortet die unzähligen Presseanfragen und überlegt sich publikumswirksame Aktionen, um Mitstreiter zu mobilisieren: gegen das Endlager, gegen die Castortransporte, gegen die Atomkraft. Die Unterstützung der Nachbarn ist der Initiative sicher. Klar, wer will schon in der Nähe einer radioaktiven Müllkippe leben? Auch die Kommunalpolitiker nicht, die sich seit Langem geschlossen und parteiübergreifend auf die Seite der Aktivisten stellen. „Ohne diese Bürgerinitiative wäre der Wandel in der Atomkraftdebatte nicht möglich gewesen“, so die selbstbewusste Einschätzung Ehmkes.
Nicht nur in Gorleben stimmen die Menschen in Gedanken das Wendland-Lied an. Es gibt Tausende unterschiedliche Bürgerinitiativen in allen Winkeln der Bundesrepublik. Der Protest ist salonfähig geworden und in Deutschland längst kein rein linkes Phänomen mehr. Die Bürger kämpfen gegen ausufernde Gewerbegebiete oder Windkraftanlagen, verhindern neue Tiefgaragen, erhalten Stadtteilbüchereien und lassen mancherorts Pläne für den fünften Discount-Supermarkt im Ort platzen. In ländlichen Gebieten engagieren sich Tierliebhaber jahrelang dafür, Fröschen und Eidechsen eine sichere Passage über neu verlegte Schnellstraßen zu ermöglichen. Und wenn eine Gemeinde nachts plötzlich die Laternen ausschaltet, um Kosten zu sparen, sollte sie die Rechnung nicht ohne ihre Bewohner gemacht haben: Nachdem im vergangenen Winter eine Zeitungsausträgerin der Kleinstadt Ottobeuren bei Augsburg auf ihrem Arbeitsweg in völliger Dunkelheit auf Glatteis gestürzt war, sammelte sie 1.100 Unterschriften und überzeugte damit den Bürgermeister, alle 775 Lampen bis auf Weiteres wieder anzuknipsen.
Mia san mia: Die Bayern lassen sich von der Politik am wenigsten gefallen und gründen die meisten Initiativen
Manche Bürgerbewegungen erregen deutschlandweit Aufsehen, wie jene in Hamburg, die eine geplante Schulreform, bei der die Schüler bis zur siebten Klasse gemeinsam lernen sollten, gekippt hat. Und Berliner haben kürzlich den Senat dazu gedrängt, umstrittene Verträge mit dem örtlichen Wasserversorger offenzulegen. Markus Henn, einer der Sprecher des „Berliner Wassertisches“, war einer von Dutzenden Aktivisten, die die Hauptstädter bis zum Volksentscheid über die Ziele und Fortschritte der Initiative aufgeklärt haben. „Außerdem haben wir es geschafft, viele große Institutionen und Vereine für unsere Sache zu gewinnen“, nennt der 30-Jährige ein wesentliches Erfolgsrezept. Kleingartenvereine, Mietergesellschaften und auch die Verbraucherzentrale machten in der Folge ordentlich Stimmung gegen die geheimen Absprachen von Politik und Wirtschaft.
Ähnlich populär war der Protest einer Gruppe von Studenten und Jungpolitikern, die in diesem Sommer die Münchner Kultkneipe „Schwabinger 7“ vor der Abrissbirne bewahren wollten. Trotz der breiten Zustimmung schlug der Rettungsversuch fehl, immerhin aber sind die Bayern damit wieder mal ihrem Ruf gerecht geworden, besonders engagiert für ihre Ziele einzutreten. So häufig wie in keinem anderen Bundesland stellen die Menschen dort Beschlüsse der großen und kleinen Politik infrage und gründen Bürgerinitiativen. Rund 1.800 Bürgerbegehren hat es in dem Freistaat seit 1995 gegeben, etwa 1.000 davon sind schließlich zur Abstimmung gebracht worden. Die Saarländer hingegen haben seit 30 Jahren laut Informationen des Vereins Mehr Demokratie weder einen echten Bürgerentscheid durchsetzen können noch einen Volksentscheid, bei dem landespolitische Themen zur Abstimmung stehen. Das könnte allerdings auch an den eher strengen Voraussetzungen liegen, die dort für den institutionellen Protest gelten. Die Regeln sind nämlich in jedem Bundesland anders. In Hamburg etwa ist es für Bürgerinitiativen viel einfacher als in Nordrhein-Westfalen, wo beim Bürgerentscheid mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen müssen, damit die Wahl gültig ist. Viele Bürgerinitiativen scheitern quer durch die Republik spätestens an dieser Hürde – an dem sogenannten Quorum. So auch der Verein Pro Nizzabad in Velbert bei Düsseldorf. Ein Jahr lang hat die Initiative für den Erhalt eines Freiluftbeckens gekämpft, nachdem die Mehrheit im Stadtrat die Schließung durchgesetzt hatte. Obwohl beim Bürgerentscheid rund 87 Prozent der Velberter ebenfalls für das Freibad waren, bleibt es geschlossen, weil das Quorum um rund 1.500 Stimmen unterschritten wurde. „Solche Regeln, die die direkte Demokratie behindern, sollte man abschaffen“, fordert Dietger Döhle, Vorstandsmitglied der Initiative.
Eines aber ist in allen Bundesländern gleich: Galten die Bürgerinitiativen noch in den siebziger Jahren nicht nur machtbewussten Kommunalpolitikern als Hort von Querulanten, werden sie heute mit ihren Anliegen ernst genommen. Denn durch sie gelangt der Protest oft erst in die Mitte der Gesellschaft. Wie in Stuttgart. Rund 2.000 Menschen haben sich an einem ganz normalen Montag im Juli auf dem Vorplatz des Stuttgarter Bahnhofs versammelt, um gegen das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 zu demonstrieren. „Es waren aber auch schon mal 100.000“, sagt Gangolf Stocker. Der 67-Jährige war bis vor Kurzem noch der Kopf der aktuell wohl bekanntesten Protestbewegung Deutschlands und hat einen großen Anteil daran, dass die „21“ in Verbindung mit einer beliebigen deutschen Stadt zum Inbegriff des bürgerlichen Unmuts gegen die Willkür von Behörden und intransparente Entscheidungen in Politik und Wirtschaft geworden ist.
Als „Wutbürger“ hat die Presse die Stuttgarter tituliert, dabei hat die allwöchentliche Montagsdemonstration – wie die meisten der 83 zuvor – eher den Charakter eines Volksfestes: bunte Kostüme, Musik, Feierabendstimmung. Stocker schüttelt an diesem Abend viele Hände – von jungen Menschen und älteren, von Sympathisanten im Anzug und Mitstreitern mit provokantem T-Shirt-Aufdruck. „Wir haben hier den Querschnitt der Bevölkerung“, betont er. Darunter auch das Großbürgertum, das laut Stocker für Glaubwürdigkeit und ein seriöses Image der Demonstranten stehen soll. 15 Jahre hat sich Stocker für den Erhalt des Kopfbahnhofes aufgerieben. Die einst so medienwirksamen Montagsdemos haben aber nicht mehr die gewünschte Außenwirkung, meint einer seiner Weggefährten. Und laut einer aktuellen Umfrage der Stadt befürwortet die Mehrheit der Stuttgarter inzwischen wieder einen Neubau unter der Erde. „Wir waren schon häufiger in schwierigen Situationen“, gibt sich Stocker kämpferisch. Und erinnert an die oberste Regel einer jeden Protestbewegung: Immer dran bleiben an der Sache!
Blockade
Es ist ein wiederkehrendes Ritual: Sobald die Atommülltransporte in die Zwischenlager durch das Land rollen, demonstrieren Atomkraftgegner mit Sitzblockaden, um den Zug mit den Castorbehältern aufzuhalten. Manche ketten sich an die Gleise, andere betonieren sich ein. Zwar gelingt es der Polizei am Ende doch immer, die Demonstranten von den Gleisen zu tragen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist den Demonstranten dennoch sicher – eine Strafanzeige allerdings häufig auch. Bei Studenten ist die Sitzblockade in Hörsälen ein ebenso beliebtes Mittel, um den Unibetrieb gehörig ins Stocken zu bringen, wenn sich ihr Zorn mal wieder gegen Studiengebühren oder die Bologna-Reform richtet.