Als man die Leiche George Mallorys 1999 an einer Flanke des Mount Everest fand, war sie mit einer Jacke aus einem Kammgarngewebe und einem Unterjäckchen aus Schafswolle bekleidet. Mehr brauchte der britische Bergsteigerpionier nicht, um 1924 bis fast auf den höchsten Gipfel der Welt zu gelangen. Und nein, die Kälte allein hat den erfahrenen Alpinisten wohl nicht umgebracht.

Und da soll es heute beim Einkaufen, auf dem Schulhof oder auf einer Radtour durch die niedersächsische Tiefebene nicht mehr ohne Funktionskleidung gehen, die auch bei arktischen Temperaturen wärmt und den Elementen mit einem atmungsaktiven Windstopper- und Regenabperl-Effekt die Stirn bietet? Funktionsjacken setzen den Naturkräften ein Großaufgebot an Mikrofaser-Technologie entgegen, mit angeberischen Namen wie Gore-Tex, Sympatex, Powertex, HyVent, Nanosphere Technology und Climashield. Was aber der Todeszone der Eigernordwand angemessen sein mag, erscheint in der Fußgängerzone von Paderborn vorsichtig gesagt: overequipped. Da stellt sich die Frage, ob in der Plastikjacke bisweilen nicht in Wahrheit ein Naturvermeider steckt, der auch das laueste Lüftchen lieber abprallen, das harmloseste Tröpfchen Nieselregen an sich abperlen lassen möchte.

Kein Wunder, dass die Freunde der Funktionsjacke schon viele Vorhaltungen über sich ergehen lassen mussten. Wie vereinbaren sie als Naturliebhaber es eigentlich mit ihrem Umweltgewissen, Jacken zu tragen, die zu 100 Prozent aus Kunstfaser bestehen? Recycelbar sind diese Kleidungsstücke jedenfalls nicht. Immerhin bemühen sich einige Hersteller darum, bei der Herstellung Plastikmüll als Rohstoff zu verwenden – bislang liegt dieser Recyclinganteil etwa bei The North Face aber bei gerade mal sieben Prozent.

Bleibt das Manko, dass der Rundumschutz der Jacken gegen Wasser und Wind den Einsatz von allerlei Schadstoffen verlangt. 2012 hat Greenpeace eine Studie veröffentlicht, in der der Einsatz von Chemie in Outdoor-Marken wie Jack Wolfskin, Mammut oder eben auch The North Face bemängelt wurde. Und dann noch der Skandal, dass die Outdoor-Hersteller fast ausnahmslos zu Ausbeutungsbedingungen produzieren lassen, dann aber stolze Preise von ihren Kunden verlangen. Der Beliebtheit der Jacken hat all dies keinen Abbruch getan. Die Imprägnierung funktioniert gegen triftige Argumente offenbar ebenso gut wie gegen Nieselregen.

Eine gute Funktionsjacke kostet gerne mal 400 Euro und besticht dabei nicht gerade durch klassische Schönheit. Dass so viele Menschen weder Kosten noch ästhetische Einbußen scheuen, macht stutzig. Die soziologische und kulturwissenschaftliche Größenordnung, in der das Phänomen inzwischen von diversen Feuilletonjournalisten betrachtet wurde, aber auch. Die Funktionsjacke als Symptom eines immer anforderungsreichen Lebens, da sie zumindest bei der morgendlichen Kleidungsfrage ganz einfach Antworten bietet – denn so eine Funktionsjacke funktioniert immer. Die praktische Funktionsjacke als der protestantisch-nordeuropäische Gegenentwurf zur sinnenfrohen Extravaganz, mit der sich die katholischen Südeuropäer gerne kleiden. So in diese Richtung gingen die Ausdeutungen, die auch vor Klischees nicht haltmachten.

Auf dieser Flughöhe könnte man auch gleich fragen, was die neue North-Face-Jacke mit Namen „Prism Optimus“ wohl zu bedeuten hat. Sollten diese Jacken durch irgendeine neue Spezialbeschichtung etwa auch Schutz gegen Abhörmaßnahmen des Handys in der Tasche bieten? In dem Fall wäre so eine Funktionsjacke vielleicht doch noch mal eine Überlegung wert.

Oliver Geyer ist jetzt auch nicht der große Freund von Funktionsjacken. Selbst als er mal für eine Reportage nach Grönland gereist ist, hat er lieber seinen alten Wintermantel getragen. Weniger aus eiskalter Konsequenz, sondern eher aus Kostengründen.

Fotos: Same, same, but different – die wunderbare Kollektion von Funktionsjackenträgern stammt aus dem Buch „People of the 21st Century“ von Hans Eijkelboom