Es ist schon ungerecht: Alle hacken auf ihr rum. Dabei gibt sie sich solche Mühe. Zum Beispiel damals, im schlimmsten Liebeskummer, als ich auf "Wie geht's?" einfach "Danke, prima" murmeln durfte. Oder an so manchem Morgen, als sie mir mit ihrem "Die S-Bahn war schuld!" den Ärger fürs Zuspätkommen ersparte. Am Wochenende hebt sie durch ein "Schmeckt super, ehrlich!" die Stimmung am elterlichen Mittagstisch. Abends werde ich durch ein beiläufiges "Letztens beim Weggehen hab ich ja die Sängerin von Mia getroffen..." doch noch zum Mittelpunkt der Party. Kurz: Ich bin ihr dankbar, der Lüge. Das sollten wir alle sein. Sie leistet ganze Arbeit - als resolute Beschützerin sensibler Seelchen, parkettsichere Diplomatin, loyale Promoterin missachteter Egos. 

Und wir? Würdigen es nicht. Bei Umfragen geben wir in drei von vier Fällen an, dass es uns verletzen würde, wenn wir herausfänden, dass uns jemand angelogen hat. Wir erfinden diskriminierende Sprichwörter wie "Lügen haben kurze Beine" oder tragische Figuren wie Pinocchio. Und verdammen, wie Immanuel Kant, die Neigung zum Flunkern gar als "der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur". Kurz: Auf der moralischen Werteskala sitzt die Lüge ganz weit unten. Dabei wäre die Welt ohne sie eine dröge Veranstaltung. Nicht nur, weil wir dann nie über die Listen des Odysseus lachen könnten, uns mit Felix Krull durch die höhere Gesellschaft schummeln oder über die Geschichten des Barons von Münchhausen lachen könnten. Sondern auch, weil wir ohne sie als intellektuell eher dumpfe Kreaturen unser Dasein fristen würden.

Lügen macht nämlich schlauer - das glauben zumindest viele Evolutionsbiologen. Schließlich ist es eine anspruchsvolle Aufgabe herauszufinden, was das Gegenüber von einem erwartet, darauf ein sattelfestes Lügengerüst zu errichten und nebenbei verräterische Mimik oder Gestik zu unterdrücken. Dazu waren nur die intelligentesten Urzeitmenschen fähig und erflunkerten sich so die beste Nahrung und die attraktivsten Sexualpartner. Heute erkennt man die geistige Höchstleistung beim Lügen am besten daran, dass wir sie noch nicht von Geburt an beherrschen. Erst ab acht können Kinder schummeln. Moralisch rechtfertigt das die Lüge freilich noch lange nicht. Doch es kommt auf die Dosierung an. Wer den anderen bewusst täuscht, um ihm zu schaden, ist einfach eine miese Type und - was für Soziologen fast wichtiger ist - eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. 

Natürlich ist es auch strategisch unklug, mit Unwahrheiten inflationär umzugehen - weil einen dann nämlich bald keiner mehr ernst nimmt und man sich all die Lügen selbst auch merken muss, um sich nicht zu verraten. Doch in vielen Situationen ist Lügen einfach die bessere Variante. Und manchmal sogar rechtlich abgesichert. Wie neulich, als ich in einem Bewerbungsgespräch gefragt wurde, ob ich demnächst gern Kinder hätte."Nein", habe ich da gesagt. Und das ehrlichere "Vielleicht" nur gedacht. Weil ich wusste, dass es ein Einstellungshindernis sein könnte. Weshalb solche Fragen in Vorstellungsgesprächen auch nicht als feine Art und Lügen als erlaubt gelten. Auch meinem Kumpel Olli verschweige ich seit Jahren eisern, dass seine Frisur wie ein angesengter Wischmob aussieht. Es würde ihn schüchterner machen, als er ohnehin schon ist. Und ich werde mich auch an diesem Weihnachtsabend bei meiner Oma mit Küsschen bedanken - für die Vase, die ich nicht brauchen kann, oder den Schal, der mir nicht gefällt. Weil sie es doch gut meinte und die Wahrheit ihr nur das Fest verderben würde. 

Die meisten unserer Alltagslügen sind überlebenswichtiger Sozialkitt, davon ist der amerikanische Philosoph David Nyberg überzeugt. Sie entkomplizieren das Miteinander, schweißen zusammen. Ohne sie wären wir einsam, frustriert, aggressiv. "Mit jemandem, der notorisch die Wahrheit sagt, könnte niemand leben", hat Mark Twain einmal gesagt. "Aber zum Glück muss das ja auch keiner." Stimmt. Denn wir lügen wie die Weltmeister. Mindestens einmal flunkern die meisten während eines zehnminütigen Gesprächs, ergab eine Studie der University of Massachusetts Amherst. Frauen vor allem, um nicht zu verletzen. Männer eher, um sich gut darzustellen. Man kann sich also ausrechnen, welcher Berg an Fantastereien sich im Laufe der Zeit über uns auftürmt - und jederzeit als solcher entlarvt werden könnte. Fast könnte einen das beunruhigen, vielleicht sogar davon abhalten, das Leben weiterhin mit Lug und Trug zu würzen. Doch zum Glück kennen versierte Schummler ein besseres Gegenmittel: Selbsttäuschung. Funktioniert fast immer. Ehrlich.