„Die wichtigsten Lehrer für Kinder sind die anderen Kinder, die zweitwichtigsten sind die Lehrkräfte, und die drittwichtigsten sind die Räume mit dem Interieur“, so sagt man in Schweden. In Deutschland haben wir bislang zu wenig auf die Lernatmosphäre geachtet. Dabei gibt es mittlerweile schon reichlich Studien, nach denen viereckige Räume mit einer Tür, rechteckige Tische, graue Gebäude, weiße Wände, zu- betonierte Schulhöfe und die sitzende Lebensweise dem Lernen nicht sehr zuträglich sind. Hirnforscher sagen, dass Kinder bis etwa zum elften Lebensjahr mehr lernen, wenn sie nicht auf einem Stuhl sitzen, sondern ihre Körperposition stets frei variieren dürfen. Kanadische Forscher haben ermittelt, dass es sich in blau und rot gestalteten Räumen besser lernt, weil Blau die Kreativität fördert und Rot die Aufnahmefähigkeit. Und Michael Schulte-Markwort, Direktor einer Kinder- und Jugendpsychosomatik- Klinik in Hamburg, propagiert ein „dynamisches Licht“, das sich im Rhythmus des natürlichen Tageslichtes verändert und damit die an- geborenen Lernrhythmen der Schüler so steuert, dass das lernfördernde Hormon Cortisol das Schlafhormon Melatonin außer Kraft setzt.
Deutsche Grundschüler lernen freitags etwa doppelt so viel wie montags. Bei Jugendlichen über 14 ist es andersherum und krasser: Sie lernen montags etwa dreimal so viel wie freitags. Warum? Nach 30 Stunden Bildschirmkonsum mit ständig wechselnden Bildern aus Comics, Spielfilmen und von der Playstation sind die Wahrnehmungsschwellen im Grundschüler in einer Weise verdorben, dass das Wort der Lehrerin am Montagmorgen kaum noch eine Chance hat, sie zu überwinden. Das ist das „Montags-Syndrom“ der deutschen Grundschulen. Eine Grundschullehrerin braucht oft den ganzen Montag, um ihre Schüler in die Lage zu versetzen, ab Dienstag wieder etwas lernen zu können; das baut sich dann über die Woche hinweg bis zum Freitag immer mehr auf. Dann kommt wieder ein Wochenende, und am folgenden Montag muss die Lehrerin wieder von vorn anfangen. Bei Jugendlichen ist es anders: Sie kommen freitags und sonnabends erst sehr spät von der Party oder aus der Disko, schlafen dann am Samstag und Sonntag tagsüber, sodass sie am Montag einigermaßen ausgeschlafen in die Schule kommen und etwas lernen können. Da jedoch bei Jugendlichen die zweite Tiefschlafphase pro Nacht erst morgens kurz nach 6 Uhr beginnt, sie dann aber bereits aufstehen müssen, schieben sie die Woche über so etwas Ähnliches wie einen immer größer werdenden Jetlag vor sich her, sodass sie am Freitag nur noch schlecht lernen können.
Schüler bis etwa zum 13. Lebensjahr haben ihre erste Hauptlernphase zwischen 8 und 10 Uhr und die zweite zwischen 14 und 16 Uhr, während Jugendliche vom 14. Lebensjahr an ihre erste Hauptlernphase von 10 bis 12 Uhr und ihre zweite von 15 bis 17 Uhr haben. Man sollte also bis zur Klassenstufe 7 beim Beginn um 8 Uhr bleiben und für die Schüler ab Klasse 8 um 9 Uhr beginnen. Eine andere Erkenntnis, die zum Gleichmacherischen vieler Schulen nicht passt: Schüler bis etwa zum 13. Lebensjahr lernen besser ohne Noten, aber ab 14 mehr mit Noten. Auch das ist eine Einsicht der Hirnforscher: Kinder lernen aus Kommunikation, durch Handeln, durch Fehlermachen und durch Einsicht, nicht aber unbedingt der Noten wegen. Besonders die Jungen lernen besser über Handeln, Ausprobieren und durch Fehlermachen, Mädchen auch durch Zuhören. Da auch in den Familien bei uns die kleinen Mädchen mehr Ansprache, Körperkontakt und soziale Herausforderungen erfahren als die kleinen Jungen, bleiben Letztere immer häufiger auf der Strecke.
Deutsche Schulen sind noch überwiegend linkshirnige Einrichtungen – es geht zu wenig um das Emotionale, Kreative und Soziale
Dass das alles nicht so sein müsste, belegen Norwegen, Schweden und Finnland. Dort findet man bei 15-Jährigen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede, weder bei den Schulleistungen noch beim sozialen Engagement noch bei den Zukunftsperspektiven. Bereits im Vorschulalter werden in Skandinavien kleine Jungen von ihren Eltern ebenso behandelt und erzogen wie kleine Mädchen. Die Jungen fühlen sich auch nicht als das überlegene Geschlecht, und ihre rechte Hirnhälfte mit dem Emotionalen, Musischen, Kreativen, Kommunikativen und Sozialen wird sowohl in der Familie als auch in der Schule genauso angesprochen und gefördert wie die linke. Die deutschen Schulen sind hingegen immer noch überwiegend linkshirnige Einrichtungen, die eigentlich nur das Logische, Rationale, Zahlenverständnis, Raumvorstellungsvermögen und die technischen Anteile von Sprache zu entwickeln trachten.
Mittlerweile besteht bundesweit ein relativ großer Konsens darüber, dass Schüler mehr Individualisierung beim Lernen benötigen. Mit seinem dreigliedrigen Schulsystem und der Ergänzung der Sonderschulen hat Deutschland eine extrem ausgebaute Trennungskultur entwickelt, die viele Schulversager, Schulabbrecher und überhaupt viele lädierte Schülerseelen produziert hat. So wissen wir erst heute, dass intelligente Kinder langsamer lernen, weil sie so viel zu bedenken haben, während nicht so kluge schneller lernen. Wir haben einseitig Begabte, leserechtschreibschwache und rechenschwache sowie hyperaktive Kinder und vor allem Jungen in Massen scheitern lassen. Wenn Schüler hingegen in integrierten Schulen (Gesamtschulen, Integrationsklassen, jahrgangsübergreifende Klassen, flexible Eingangsphasen, Gemeinschaftsschulen und längere Grundschulen) ohne die Gefahr des Sitzenlassens lernen, wenn sie durch Handeln und Fehlermachen lernen dürfen, dann kommt niemand mehr auf die Idee, dass sie alle gleich leistungsfähig sind. Das ist das aktuelle Gebot der Individualisierung, mit dem zugleich gesellschaftliche Integration begünstigt wird. Den Deutschen Schulpreis 2007 hat die Robert-Bosch-Gesamtschule – eine integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe – in Hildesheim gewonnen. Dort hat jeder Schüler einen anderen Stundenplan.
Wer Schüler belehrt, statt sie selbst lernen zu lassen, wer viel von Vergleichsarbeiten und zentralen Abschlussprüfungen hält und wer Schulen alle zwei Jahre landesübergreifend quervermisst, der versündigt sich an dem Gebot des individualisierenden Vorgehens. Wer als Lehrer Lernziele wie Ostereier versteckt und dann erwartet, dass alle vor ihm sitzenden Schüler in den gleichen kleinen Schritten am Ende von 45 Minuten diese Ziele gefunden haben (wir nennen das „Osterhasenpädagogik“), der muss sich auf sehr schlechte Ergebnisse gefasst machen, zumal er dann nicht nur die Jungen benachteiligt, sondern in den Schülern auch eine artige „Buchhaltermentalität“ aufbaut, was das Gegenteil von Selbstständigkeit und Kreativität ist. Wie sagte doch der Entwicklungspsychologe Jean Piaget? „Alles, was einem beigebracht wird, hat den Nachteil, dass man nicht mehr selbst drauf kommen kann.“