Eigentlich sind sie Journalisten, keine Geheimagenten. Doch am 7. August 2018 verschwimmen die Grenzen zwischen diesen beiden Jobs für Oliver Schröm und Christian Salewski. Sie erwarten einen fragwürdigen Gast in ihrer Suite in einem der teuersten Hotels in London. Das arrogante Auftreten eines jungen Milliardärs und seines älteren Halbbruders haben sie gut geübt.
Wird ihr Gast, ein Investmentbanker, trotzdem Verdacht schöpfen? Versteckte Kameras halten die Szene fest. Und liefern am Ende den Beweis dafür, dass eine Art „Raubzug“ durch Europa geht – teils völlig legal, durchgeführt von Anwälten und Bankern.
„Raubzug“ – geht’s auch eine Nummer kleiner?
Der Banker bot den beiden „Milliardären“ vor laufender Kamera ein Geschäft an, bei dem der ungewöhnlich hohe Profit aus europäischen Staatskassen kommen sollte. Mit einer Methode, die man Cum-Ex nennt, werden Aktien zwischen Geschäftspartnern mehrmals hin und wieder zurück gehandelt, sodass es am Ende möglich ist, eine Steuerabgabe – die Kapitalertragsteuer – zurückzufordern, ohne sie je gezahlt zu haben. Von 2001 bis 2016 sind deswegen mindestens sieben Milliarden Euro aus Deutschlands Staatskassen ohne Gegenwert abgeflossen. Wenn man die ähnliche Methode Cum-Cum dazuzählt, sind es sogar 31,8 Milliarden in Deutschland und 55 Milliarden in ganz Europa.
Okay, schon eine Menge Geld. Warum ging das so lange gut?
Dazu muss man wissen, dass die Europäische Kommission nur für grenzüberschreitende Vorfälle verantwortlich ist. Die Steuerrückerstattungen sind aber nationale Angelegenheiten. Die europäischen Partnerländer haben viel zu spät Informationen untereinander ausgetauscht. Die Regierungen hätten den Steuerraub in Milliardenhöhe womöglich verhindern können, wenn Deutschland, das zuerst und am stärksten betroffen war, rechtzeitig informiert hätte.
Was Deutschland mit 31 Milliarden Euro Steuergeldern machen könnte:
- etwa anderthalb Jahre lang Geflüchtete versorgen
- einmal doppelt so viel für Gesundheit ausgeben wie sonst im Jahr
- mindestens 1.000 Schulen bauen
- ein Jahr lang die Ausgaben für Verkehr und digitale Infrastruktur abdecken
Denn das deutsche Finanzministerium warnte seine europäischen Nachbarn erst 2015, obwohl es bereits 2002 von den Cum-Ex-Geschäften erfahren hatte. Ein erster Versuch der Bundesregierung, die Deals durch ein neues Gesetz 2007 zu unterbinden, ging in den Augen mancher nach hinten los. Die Gesetzesänderung machte zwar Cum-Ex-Deals unmöglich, bei denen der Aktienverkäufer eine inländische Bank war, nicht aber, wenn ein Händler im Ausland involviert war. Betrüger machten sich daher auch nach 2007 ans Werk. Für die Ausarbeitung des neuen Gesetzes war der Vorschlag des Bankenverbandes direkt übernommen worden. Fünf Jahre später konnten dann Cum-Ex-Geschäfte in ihrer aktuellen Form in Deutschland eingeschränkt und verboten werden. Seitdem können Depotbanken nämlich nicht mehr mehrere Steuerbescheinigungen ausstellen.
Kann ein solcher Betrug wieder vorkommen?
Im Juli hat die europäische Finanzmarktaufsicht eine Untersuchung veröffentlicht, die angestiegene Zahlen von Transaktionen um den jeweiligen Dividendenstichtag in einigen europäischen Ländern feststellt. Das gilt als ein starker Hinweis auf ähnliche Fälle, weil bei Cum-Ex durch das Handeln um den Stichtag herum sowohl Käufer als auch Verkäufer die Kapitalertragsteuer absetzen konnten.
Die „Correctiv“-Recherche zu Grand Theft Europe aus diesem Jahr zeigt, dass Cum-Ex nur ein Teil eines größeren Problems ist, denn in Europa werden jedes Jahr 50 Milliarden Euro Steuergelder durch sogenannte Steuerkarusselle gestohlen. Dabei werden vor allem die unterschiedlichen Umsatzsteuersätze innerhalb der EU ausgenutzt. Und auch hier steht, laut Kritikern, ein Mangel an europäischer Kooperation der Verfolgung maßgeblich im Weg. Zudem sei der politische Wille, hier tätig zu werden, nicht überall gleich groß. Die Ursachen für andauernden Betrug sind also noch lange nicht behoben.
Gibt es Vorschläge, wie sich dieses Problem lösen lässt?
Das „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ schlägt zum Beispiel eine Erweiterung der OECD-Steuerdatenbank vor, um Partnerländer vor Betrugsmodellen zu warnen, und fordert zusammen mit Attac einen automatisierten Datenaustausch zu Kapitalertragsteuern. Die „Bürgerbewegung Finanzwende“ ist ebenso wie Attac und das „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ für eine europäische Steuerpolizei, also ein Team aus Polizisten und Wirtschaftsexperten, das länderübergreifend nach Steuerbetrügern fahndet.
Zurzeit sind die europäischen Banken- und Börsenaufsichten dafür zuständig. Die haben jedoch zwei Nachteile, meint Gerhard Schick, Vorstand von „Finanzwende“: Zum einen würden die nationalen Vertreter, die die Aufsichten bilden, möglichst wenige Kompetenzen an eine europäische Institution abgeben, zum anderen hätten sie ein Interesse daran, dass es keine Aufregung im Bankensektor gibt.
GIF: Jan Q. Maschinski