Thema – Corona

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Jeder stirbt für sich allein

Ein Toter ist eine Tragödie, sagt man, und tausend Tote sind eine Statistik. Hat die Corona-Pandemie unsere Wahrnehmung vom Sterben verändert? Wir haben Menschen gefragt, die täglich mit dem Tod zu tun haben

79.088. So viele Menschen sind laut Robert-Koch-Institut bis 14. April 2021 im Zusammenhang mit dem Corona-Virus in Deutschland gestorben. Todesfälle und Inzidenzwerte bestimmen die Newsfeeds und das öffentliche Leben. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war der Tod in Deutschland vermutlich nie präsenter. Wir haben fünf Menschen gefragt, die sich beruflich mit dem Sterben beschäftigen, wie das Virus unser Bild vom Tod und ihre Berufe verändert. Drei von ihnen leben und arbeiten in Regionen, die heftig von der Pandemie betroffen sind, zwei in einem Landkreis, der weitgehend verschont blieb.

„Das Sterben hat sich verändert, weil die meisten dabei allein sind“

– Oberarzt Dr. Sven Laudi ist verantwortlich für die Covid-19-Intensivstation des Uniklinikums Leipzig

„Die erste Welle hat uns in Sachsen relativ wenig betroffen. Im März und April 2020 hatten wir 15 bis 20 Patienten mit einer Covid-19-Infektion auf der Intensivstation. Im Sommer gab es vier Monate lang nicht einen einzigen Corona-Fall – bis zum 30. September 2020. Eine solche Dichte an Patienten mit derselben Erkrankung haben wir so noch nie erlebt. Stand jetzt wurden während der zweiten Welle 330 Covid-19-Fälle auf der Intensivstation behandelt, in der Spitze zwischen Weihnachten und Neujahr waren es 41 gleichzeitig. An die häufig befürchtete Überlastungsgrenze sind wir glücklicherweise nicht gestoßen – dem Einsatzwillen meines Teams, der Aufstockung während der ersten Welle und der Absprache mit anderen Krankenhäusern sei Dank. Gleichzeitig ist es bei uns lauter, hektischer und anstrengender als sonst.

Die Letalität (Anm. d. Red.: Fachbegriff für die Wahrscheinlichkeit, an einer Krankheit zu sterben) der Intensivpatienten mit Covid-19 liegt bei 40 bis 50 Prozent, ein extrem hoher Wert. Das Sterben hat sich während der Pandemie verändert, weil die meisten Patienten dabei alleine sind. Inzwischen haben wir Maßnahmen ergriffen, damit Angehörige in Ausnahmefällen zu Besuch kommen können. Für viele ist das sehr wichtig. Umso schlimmer, dass das aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen oft nicht möglich ist. Einen ruhigen und angenehmen Abschied können wir aber selbst denen nicht bieten, die auf die Station kommen dürfen. Sondern – wenn überhaupt – lediglich die Anwesenheit inmitten eines auf Hochleistung laufenden Betriebes.

Bislang hält unser Team dem Druck sehr gut stand. Der Tod gehört zu unserem Job – und auch wieder nicht: Wenn ein Mensch verstorben ist, ist unsere Aufgabe beendet. Meine Sicht auf das Sterben und den Tod hat sich nicht verändert. Corona-Leugner und Impfgegner kann ich nicht verstehen. Aber letztlich behandeln wir hier alle gleich. Auf einer Intensivstation spielt Glaube oder Unglaube keine Rolle. Hier geht es darum, zu überleben.“

(7-Tage-Inzidenz in Leipzig: 154,9, 472 Todesfälle seit Pandemiebeginn, Stand 14. April 2021)

„Das Virus ist noch da, aber es hat seinen Schrecken verloren“

– Endira Avdic, Palliative-Care-Beauftragte einer Pflegeeinrichtung in München

„Bei einer Sterbebegleitung sind viele Menschen beteiligt. Meine Aufgabe ist es, sie zu vernetzen. Mitzuhelfen, dass unsere Bewohner*innen einen würdevollen Abschied bekommen und mit ihren Angehörigen die nötige Zeit haben, sich auf den Tod vorzubereiten. Als die erste Welle im März 2020 über uns hereinbrach, hatten wir diese Zeit plötzlich nicht mehr.

Früh wurden Bewohner*innen und Pflegekräfte positiv auf das Virus getestet, in den folgenden Tagen und Wochen wurden es immer mehr. Einige unserer Bewohner*innen machten am Vormittag noch ihren Gang über die Flure, lagen am Nachmittag mit Atembeschwerden im Bett und waren am nächsten Tag tot. Wir haben monatelang über der Belastungsgrenze gearbeitet, zeitweise war ich nur zum Schlafen zu Hause. Diese erste Welle hat uns schlichtweg überrollt.

Angst habe ich nicht vor dem Tod, sondern davor, einsam sterben zu müssen. Genau das ist in den ersten Monaten der Pandemie etlichen Menschen passiert. Immerhin haben die digitalen Medien geholfen, eine Verbindung zwischen den Sterbenden und ihren Angehörigen zu schaffen. Außerdem haben wir im Außenbereich zu Abschiedsritualen eingeladen, die Bewohner*innen bemalten Steine für die Toten und verteilten sie im Garten. Abschied nehmen hilft uns weiterzuleben.

Auf die zweite Welle waren wir nach diesen schlimmen Erfahrungen besser vorbereitet, jetzt, in der dritten Welle, hilft uns der Impfstoff. Das Virus ist noch da, aber es hat seinen Schrecken verloren. Mein Blick auf den Tod hat die Pandemie nicht verändert, ich begleite seit 27 Jahren Sterbende. Aber ich glaube, dass wir das Leben anders wahrnehmen. Wie wichtig soziale Kontakte sind, wie wertvoll etwas Einfaches wie eine Berührung sein kann, hat uns Covid-19 ziemlich eindringlich vor Augen geführt.“

(Inzidenz München: 134,7, 1.136 Tote, Stand 13. April)

„Ein Krematorium muss in Quadratmetern rechnen“

– Michael Kriebel führt das „Flamarium“, ein Krematorium mit Standorten in Halle (Saale) und in Kabelsketal (Saalekreis, Sachsen-Anhalt)

„Am Tag schaffen wir etwa 100 Einäscherungen. Eine dauert im Schnitt 2,5 Stunden, unsere Öfen schaffen drei Einäscherungen gleichzeitig. Die Tore sind hermetisch abgeriegelt – damit sich die Asche nicht vermischt.

Jeder Verstorbene ist ein einzelnes Schicksal. Trotzdem muss ein Krematorium auch in Quadratmetern rechnen. Ein Sarg ist 2,10 Meter lang und 75 Zentimeter breit. Wir haben 500 Stellplätze. Macht 500-mal 1,575 Quadratmeter. Wir waren erst einmal überbelegt: Im Januar 2021 lagen 696 Verstorbene zeitgleich in Kühlung, da mussten 196 Särge draußen gelagert werden. Zum Glück war es kalt genug, sonst hätten wir mobile Kühleinheiten besorgen müssen. Zeitgleich lief ein TV-Beitrag über ein Krematorium in Meißen. Auf den Bildern sah man achtlos übereinandergestapelte Särge. Für die Angehörigen sind solche Bilder schlimm. Die denken sich: Ist das vielleicht Oma oder Opa, auf die die da zwei Särge draufgepackt haben?

Die zweite Welle hat uns voll erwischt. Im Januar gab es im Erzgebirgskreis eine Übersterblichkeit von 100 Prozent (Anm. d. Red.: Wie schwer die Pandemie ein Land trifft, zeigt auch die Übersterblichkeit. Sie liegt vor, wenn deutlich mehr Menschen sterben als in einem bestimmten Zeitraum üblich). 2018, während der Grippewelle, hatten wir im Januar und Februar 3.685 Tote. 2019 waren es 3.498. Dieses Jahr 4.504. Der Anteil der 80- bis 89-Jährigen ist um 30 Prozent gestiegen, das ist ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, die wir doch schützen wollten.

Angst vor einer Ansteckung habe ich nicht. Mit hochinfiziösen Krankheiten kennen wir uns aus, entsprechend hoch sind die Sicherheitsmaßnahmen. Angst habe ich vor einer dritten Welle. Ich denke, die Lockerungen kamen zu früh. Bald werden wir Infektionszahlen haben, die wir uns jetzt nicht mal vorstellen können. Allerdings nicht mehr Sterbefälle. Die Klientel, die jetzt verstorben ist, kann ja nicht noch mal sterben.

Es mag merkwürdig klingen bei diesen Zahlen, aber der Tod hat in meinem Leben leider keinen Bestand. Früher haben sich die Menschen persönlich um ihre Toten kümmern müssen. Heute macht das der Bestatter. Der Tod rückt immer weiter von uns weg. Selbst in Zeiten wie diesen.“

(Inzidenz Halle/Saale): 212,3, 297 Tote, Stand 14. April)

„Durch Corona sind Beerdigungen kleiner und intimer, das erleben viele als positiv“

– Peter Kuhlmann ist Theologe, Autor und Trauerredner aus dem niedersächsischen Celle

„Bei meinem Kontakt mit dem Tod geht es oft um das Leben. Eine gute Trauerrede ist für mich eine Form der Lebensbilanz. Dieser Rückblick auf die Jahrzehnte geht zwar meist nicht länger als eine halbe Stunde, ist aber ganz wichtig im Trauerprozess. Die Angehörigen möchten natürlich, dass der Verstorbene positiv dargestellt wird, es dient aber auch der Vermittlung zwischen denen, die bleiben, und der Person, die gegangen ist. Wie oft habe ich das schon gehört: Ich wusste ja gar nicht, dass Oma/Opa das gemacht hat. Der Tod ist eine Leerstelle. Über das Leben zu sprechen kann sie füllen.

Ich möchte helfen, dass der Verstorbene einen schönen Abschied bekommt. Mich persönlich berührt der Tod dabei nicht. Viel mehr die, die zurückbleiben. Durch die Pandemie ist der Tod auch für sie einsamer geworden. Wenn Menschen nicht richtig Abschied nehmen können, soziale Kontakte sie nicht in ihrer Trauer begleiten oder ablenken können, ist das schlimm. Bei einer Beerdigung habe ich eine junge Frau beobachtet, die zunächst versucht hat, eineinhalb Meter Abstand zu ihrer trauernden Mutter einzuhalten. Irgendwann konnte sie aber nicht mehr anders, als rüberzurutschen und sie in den Arm zu nehmen. Ich konnte sie sehr gut verstehen. Gleichzeitig haben die strengen Regeln für Trauerfeiern manchen auch Druck genommen, zum Beispiel in ihrer Trauer daran denken zu müssen, auch ja jeden Bekannten zur Beerdigung einzuladen. Derzeit sind die Runden zwangsläufig viel kleiner und dadurch intimer, das erleben viele als positiv.

Insgesamt empfinde ich die Stimmung als sehr bedrückend. Seit einem Jahr beschäftigen wir uns mehr mit dem Tod als mit dem Leben. Auf Dauer kann das kein Zustand sein.“

 

(Inzidenz Celle: 111,2, 59 Tote, Stand 14. April)

„Den Tod hat die Pandemie nicht verändert. Aber das Leben ist anders“

– Friedhelm Bornemann, Bestatter aus Celle

„In unserer Statistik spielt das Coronavirus so gut wie keine Rolle. In all den Monaten haben wir zwei Menschen bestattet, die an den Folgen des Virus gestorben sind.

Allerdings hat sich die Trauerarbeit nachhaltig verändert. Die begrenzte Personenzahl bei Beerdigungen, die zu wahrende Distanz, der nicht mehr vorhandene Trauerkaffee. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Wert einer Umarmung noch mal so intensiv erfahre. Menschen sind soziale Wesen, gerade in der Trauerbewältigung suchen und brauchen wir Körperkontakt, Nähe, eine starke Schulter. Bei Bestattungen versuchen sich die Angehörigen gerade mit Gesten zu helfen, etwa einer angedeuteten Umarmung. Das ist natürlich nicht dasselbe. Nach der Beisetzung, wenn man persönlich zu den Angehörigen geht, um sein Beileid zu bekunden, bringen es viele nicht mehr übers Herz und kommen sich näher. Was wiederum für Befremdlichkeiten sorgen kann. Diese Ambivalenz macht die Abschiednahme noch schwieriger.

Ich vermisse vor allem den sogenannten Trauerkaffee im Anschluss an die Beisetzung. „Fell versaufen“ hat man das früher mal genannt, wenn mit Bier und Korn auf den Verstorbenen angestoßen wurde. Heute reichen Kaffee und Kuchen, um zusammenzusitzen, auch mal zu lachen und die Trauer abzuschütteln. Diese Möglichkeit fehlt ungemein. Stattdessen versprechen sich viele, nach dem Ende der Pandemie noch mal ‚richtig‘ Abschied zu nehmen. 

Ich hoffe, dass wir in der Zeit nach Corona noch bewusster miteinander umgehen. Dass wir soziale Kontakte oder so etwas anscheinend Unspektakuläres wie eine Umarmung zu schätzen wissen. Den Tod hat die Pandemie nicht verändert, der Tod ist immer gleich. Aber das Leben ist anders geworden.“

Titelbild: Patrick Junker/laif

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