Die Vorhänge in Bashkim Bytyqis Büro sind zugezogen. In einer Glasvitrine stehen drei Pokale, die an Triumphe im Schach, Tischtennis und Fußball erinnern, auf dem Schreibtisch befindet sich die Flagge der Republik Kosovo. Bytyqi, der stämmige 50-jährige Schuldirektor in der kosovarischen Kleinstadt Mirash, kurbelt an einer sogenannten Tesla-Spule, mit der man aus einfachem Strom Hochspannung erzeugen kann.

Zwischen den beiden kugelförmigen Induktoren zuckt ein blauer Blitz. „Vorsicht, nicht berühren!“, sagt er. Dann fasst er selbst an die Spule, zuckt zusammen und lacht über seinen Streich. Wie eines seiner Schulkinder, die immer weniger werden. Seit vergangenem November hat die Schule 20 von 120 Schülern verloren. Insgesamt sind 80 der 1.700 Einwohner von Mirash nach Deutschland, Österreich, Belgien oder in die Schweiz gegangen, um Asyl zu beantragen. „Es ist traurig und schmerzhaft zu sehen, dass so viele Menschen unseren Ort verlassen“, sagt Bytyqi, der sieben Jahre Bürgermeister war und noch immer im Gemeinderat sitzt. „Die meisten hatten einen Beruf und ein durchschnittliches Einkommen. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum sie gegangen sind.“

Der Kosovo hatte sich in einem blutigen Konflikt von Serbien abgespaltet und 2008 seine Unabhängigkeit proklamiert, die Serbien bis heute nicht anerkennt. Der Staat gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Seit Ende 2014 haben rund 120.000 Menschen das Land verlassen. Den „großen Exodus“ tauften die Medien die anhaltende Migrationswelle, schließlich hat der Kosovo nur 1,8 Millionen Einwohner.

Mirash besteht hauptsächlich aus rötlichen, einstöckigen Lehmziegelhäusern mit Zäunen aus geflochtenen Weiden. Es gibt eine Moschee, einen Supermarkt, einen Fußballplatz mit verrosteten Torpfosten. Die Arbeitslosenrate beträgt 40 Prozent – das ist immer noch besser, als in vielen anderen Kommunen. Und dennoch gab es in Mirash auch so etwas wie einen Aufbruch. In den vergangenen vier Jahren hat die Luxemburger Caritas-Stiftung eine halbe Million Euro investiert. Damit wurde die Schule saniert, die Ambulanz neu ausgestattet, 60 Familien bekamen Gewächshäuser aus Plastikplanen und Stahlrohren, um für den lokalen Markt Gemüse anzubauen.

Auch von diesen Familien sind einige auf und davon. Auf der Suche nach einer Antwort hört man in einem Café in der Hauptstadt Priština, dass die Auswanderung mit einem Einbruch begonnen habe. Drei junge Männer seien erwischt worden und nach Deutschland geflüchtet, um ihrer Verhaftung zu entgehen. Auf Facebook schwärmten sie davon, wie bequem man auf Kosten deutscher Behörden leben könne. Da habe es natürlich nicht lange gedauert, bis sich auch andere aufmachten in ein neues Leben.

Auch Valmir Murati, 19, ein ehemaliger Schüler von Bytyqi, ist im vergangenen November mit einem Bus über Ungarn nach Deutschland geflohen – auf der Suche nach „einer stabilen Zukunft, irgendeiner Form von Fortschritt, einem schicken Auto“. Ein Freund hatte ihm erzählt, dass die Chancen für Ausländer gut stünden, in Deutschland einen Job zu finden. Der Freund hatte das von jemandem, der wiederum jemanden kannte, der in Deutschland war. Erst vor vier Tagen ist Valmir zurückgekehrt. Nun arbeitet er auf einer Obstplantage, sieben Hektar Apfelbäume und Erdbeerpflänzchen.

Der Busbahnhof in Priština ist ein Parkplatz mit Grill und Kiosk, in die Kurve einer Autobahn gezwängt, unter einem Blechdach stehen rote Plastiksessel für Wartende, an manchen Bussen leuchten noch die Ziele aus einer anderen Zeit: Günzburg Bhf. oder Fuldabrück. Viele der Menschen, die hier auf vollen Taschen sitzen, wollen zunächst nach Serbien, um dort einen Antrag auf einen serbischen Pass zu stellen. Mit dem können sie sich innerhalb der EU frei bewegen. „Serbien hat seine Tore weit geöffnet für illegal Ausreisende aus dem Kosovo“, klagte unlängst Kosovos Präsidentin Atifete Jahjaga.

Auch Valmir ist von hier aufgebrochen. Die Fahrkarten gehen für 50 Euro von Hand zu Hand. Seit sich herumgesprochen hat, dass die Schmuggler an der Grenze zu Serbien statt bis zu 800 nur noch 150 Euro nehmen, ist die Zahl der Flüchtenden größer geworden. Junge Männer verkaufen ihre Smartphones und fahren mit dem Geld bis nach Budapest oder Berlin.

Von Belgrad reiste Valmir nach Budapest, von dort nahm er einen Zug nach München, dann ging es weiter nach Stuttgart. Dort meldete er sich bei der Polizei, um einen Asylantrag zu stellen. Er kam in eine Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe. „Es war ein gefährlicher Ort, eine improvisierte Containerunterkunft, in der es fast täglich zu Messerstechereien kam“, sagt Valmir und schiebt die Hände in die Taschen seiner roten Arbeitsweste. Jeden Morgen sei er um sieben Uhr aufgestanden und im winterlichen Baden-Württemberg von Tür zu Tür gegangen, um nach einem Job zu fragen.

„Einige haben sich über uns lustig gemacht, aber die meisten waren freundlich und erklärten, dass sie niemanden ohne Arbeitserlaubnis nehmen dürften.“ Viereinhalb Monate hat er es so versucht. Dann wurde es Valmir zu müßig, auf eine Antwort der Asylbehörde zu warten, zumal alle seine Freunde im Heim bereits abgelehnt worden waren. Er lieh sich 80 Euro von Verwandten und kaufte sich ein Rückflugticket. „Ich habe als einer der Ersten den Ort verlassen. Aber ich habe nie irgendjemandem erzählt, dass es toll wäre in Deutschland“, sagt er und hebt die Hände entschuldigend.

Rückkehrer wie Valmir werden im Kosovo liebevoll als „Ungarn“ verspottet, weil sie meist über Budapest reisen. Vorwürfe macht ihnen kaum jemand, niemand weiß ja, ob die Verheißungen über ein neues Leben in einem reicheren Land nicht doch stimmen. Zudem: Über die Hälfte der Kosovaren sind unter 30 Jahre alt – dass sich viele von ihnen nach einer Zukunft in einem anderen Land sehnen, finden die meisten normal.

Es gibt sogar Gerüchte über Gerüchte: In einigen Moscheen predigen die Imame, dass die Geschichten über Deutschland von den Serben gestreut würden, um den Kosovo in die Knie zu zwingen. „Viele Kosovaren haben ein sehr geringes Bildungsniveau. Sie glauben das, was eine Person mit Autorität zu ihnen sagt. Die googeln das nicht erst“, sagt der Dramatiker Jeton Neziraj, der mit „Peer Gynt from Kosovo“ ein Theaterstück geschrieben hat, das sich den unrealistischen Erwartungen an ein Leben im Ausland widmet.Es sind auch vor allem die jungen Leute, die den teils absurden Gerüchten, die zirkulieren, Glauben schenken: Deutschland müsse immer eine bestimmte Anzahl schwarzer und weißer Flüchtlinge aufnehmen, heißt es etwa.  Da zuletzt so viele Araber und Afrikaner gekommen seien, gäbe es nun wieder gute Chancen auf Asyl für Weiße wie die Kosovaren. Dann wieder wird gemunkelt, dass die deutsche Gesellschaft vergreise. Es würden kaum noch Kinder geboren. Schulen und Kindergärten müssten schließen. Darum würde jungen Kosovaren Asyl gewährt.

Über dem Supermarkt in Mirash gibt es einen großen Raum mit einem Kicker, einem Billardtisch, einer Tischtennisplatte und einem Fernseher für Fußballübertragungen. „Hier treffen sich Einwohner jeden Alters in Harmonie“, sagt Schuldirektor Bytyqi. Er sitzt an einem Tisch am Fenster und schaut auf den Friedhof und die Berge. Er ist stolz auf diesen Raum, den er abwechselnd als Bar, Jugendklub und Sozialklub bezeichnet. Eine der beiden Supermarktverkäuferinnen kommt hoch und stellt Cola-Dosen auf den Tisch. Am schönsten sei es hier im Sommer, sagt Bytyqi, „wenn all die Ausgewanderten zurück nach Mirash kommen“.

Fotos: Christian Gesellmann