Thema – Terror

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Willkommen auf der Chicken Street

Auf dieser Einkaufsstraße in Kabul öffneten einst Touristen, Soldaten und Diplomatinnen ihre Portemonnaies. Seit der Machtübernahme der Taliban verstauben Edelsteine, Seidentücher und Teppiche mit Panzermotiven

Chickenstreet

Abdul Jabar Safaar legt einen fingernagelgroßen Stein auf den Tresen, der im flackernden Neonlicht grün leuchtet. „Das ist ein Smaragd aus Afghanistan“, sagt der 62-Jährige. „Beste Qualität.“

Seit 1975 verkauft Abdul Schmucksteine, Ringe und Armreifen in der Kabuler Innenstadt, genauer: in der Chicken Street. Die Einkaufsstraße war lange Zeit Anziehungspunkt für kaufwillige Ausländer:innen – zuerst für Hippies auf dem Weg nach Südasien, dann für NATO-Truppen und Auslandskräfte vor Ort. Auch afghanische Geschäftsleute und Regierungsangestellte kauften dort für ihre internationalen Gäst:innen Geschenke ein. Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich in Afghanistan viel verändert – auch in der Chicken Street.

Das Licht ist an, die Kundschaft bleibt aus

Abdul Jabar Safaar legt neben den grünen noch einen roten Stein. „Das ist ein Rubin“, sagt er. Auch aus Afghanistan, auch beste Qualität. Die Steine, erzählt er, bezieht er aus den Minen in den afghanischen Bergen. Die Rohlinge bringt er zu einem Schleifer, legt die geschliffenen Steine in sein Schaufenster und wartet auf Kundschaft – nur die bleibt aus. Seitdem die Taliban vergangenen Sommer an die Macht kamen, sagt Abdul, verlor er rund die Hälfte seiner Käufer:innen. Darunter nicht nur afghanische Kundschaft, sondern mit dem Abzug der NATO auch internationale. Trotzdem macht er weiter, denn aufhören kann er nicht: „Das Geschäft ist seit 1945 im Besitz meiner Familie. Wir haben keinen anderen Job, dieser Laden ist für uns die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.“ Abdul hofft, dass die Grenzen seines Heimatlandes bald wieder öffnen. „Inschallah“, sagt er, so Gott will, kommen bald wieder viele Kund:innen.

Ein paar Läden weiter, hinter einer Tür voller Handschnitzereien, stapeln sich Wollschals und seidene Halstücher auf langen Regalen. Auf dem Boden liegen rote Teppiche, die die Schritte dämpfen, an der Wand ein Teppich mit runden Stickereien. „Elefantenfüße“, sagt Mohammad Farid.

Seit seinem neunten Lebensjahr arbeitet der 44-Jährige in dem Ladengeschäft seiner Familie, verkauft Schals, Teppiche und Seide. Der Teppich mit den Elefantenfüßen erinnert ihn an seine Heimat Parwan, die afghanische Provinz, aus der seine Familie stammt. „Zu Hause hatten wir viele solche Teppiche“, sagt Mohammad. Er steht an einem langen Tisch, faltet Schals und steckt sie in Plastiktüten. „Damit sie nicht verstauben.“ Das sei nötig, am Tag kämen gerade vielleicht acht, maximal zehn Leute in den Laden. „Früher waren hier jeden Tag bis zu 60 Kunden“, sagt er und zeigt auf den hinteren Teil des Geschäfts. Dort stehen Webstühle zum Herstellen der Schals. Inzwischen, sagt Mohammad, stünden sie häufig still. 

Vor 80 Jahren wurden hier Hühner verkauft – daher hat die Chicken Street ihren Namen

Beshir Abdul betreibt mit seiner Familie ein Bekleidungsgeschäft, spezialisiert auf Felle, Pelze und Lederjacken. Der 24-Jährige kniet mit einem Schraubendreher vor seinem Laden und zieht mehrere Schrauben an einem kleinen Generator fest. Stotternd springt der Motor an, Qualm pufft aus einem Metallrohr und kitzelt in der Nase. „Sorry“, sagt Beshir. Stromausfall.

Mit dem Generator kann er seinen Laden beleuchten und Kund:innen empfangen – auch wenn die Stromversorgung mal wieder zusammenbricht. Das Licht brennt, allerdings komme nur noch rund ein Drittel der Kundschaft, seit die Taliban an der Macht sind, sagt Beshir. Früher hatte viele internationale Kund:innen, Amerikaner:innen kauften Lederjacken, Franz:ösinnen Mäntel aus Schafsfell oder Pelze. Er habe trotzdem jeden Tag von acht bis sechs Uhr abends geöffnet, sagt Beshir. Dann muss er wieder raus, zum stotternden Generator, der auszugehen droht. Auf dem Weg greift er nach einem Schraubendreher.

Schräg gegenüber von Beshirs Pelz- und Fellgeschäft betreibt Mohammad Jawad gemeinsam mit seinem Vater Abdul Quadir einen Teppichladen. Zusammengerollt liegt die Ware auf Regalen. Eine schmale Treppe führt in den ersten Stock, weitere Räume voller Teppiche. Viel Rot, ein bisschen Blau, kaum Weiß. Auf einigen Teppichen sind Kalaschnikows, Panzer und Artilleriegeschütze eingewebt, auf anderen stürzen Flugzeuge in das World Trade Center. Die afghanischen Kriegsteppiche bilden die konfliktreiche Vergangenheit des Landes ab und erfreuen sich vor allem bei Sammler:innen großer Beliebtheit. „Bis Mitte 2021 liefen die Geschäfte richtig gut“, sagt Mohammad.

„Ich wünsche mir, dass man uns Afghanen beibringt, Fische zu fangen, nicht nur, sie zu essen“

Gekauft hätten bei ihm vor allem Amerikaner:innen und Angehörige anderer NATO-Truppen, Angestellten der alten Regierung, die für internationale Gäst:innen Geschenke kauften, und afghanische Geschäftsleute auf Souvenirjagd. Seit die Taliban an der Regierung sind, komme neben Freunden und Familienangehörigen kaum noch Kundschaft in den Laden, sagt Mohammad.

Seit 1945 betreibt die Familie den Teppichladen in der Chicken Street, erzählt sein Vater Abdul. „Ganz früher, vor 80 Jahren, wurden hier Hühner verkauft“, sagt er. Daher habe die Straße ihren Namen. 1985 übernahm Abdul das Familiengeschäft, inzwischen führt er es gemeinsam mit seinem Sohn. Das Problem, sagt der, sei nicht nur, dass gerade internationale Kundschaft ausbleibe. „Auch die Ingenieur:innen, die viele Projekte hier in Afghanistan betreut haben, fehlen als Käufer:innen.“ Nur das Rote Kreuz würde manchmal noch Teppiche kaufen. „Das reicht nicht zum Leben.“ Aktuell lebt die Familie von ihren Ersparnissen. Wie lange das noch reicht zum Überleben? „Es wird reichen“, sagt Mohammad. „Allah wird helfen.“

Mohammad fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. „Die Regierungen in Afghanistan kommen wie Projekte, bleiben vielleicht zehn, fünfzehn Jahre, dann sind sie wieder weg“, sagt er. „Ich wünsche mir, dass man uns Afghanen beibringt, Fische zu fangen, nicht nur, sie zu essen.“ Dann, sagt er, können sie sich selbst helfen. „Wir Afghanen haben so viel geopfert, wir können nicht mehr, wir sind erschöpft.“ Mohammad weiß nicht, was passieren wird, hofft aber, dass seine Heimat nach all den Kriegen bald ein sicheres Land wird. „Dann“, sagt er, „kommen Tourist:innen nach Afghanistan. Die kaufen Teppiche. Und Teppiche bringen Geld.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.