Mehr als ein Jahrhundert hatten sie darauf warten müssen, ihre Verwandten zu begraben: Erst 2011 übergab die Berliner Klinik Charité einer Delegation aus Namibia 20 Schädel von Menschen, die zwischen 1904 und 1908 von deutschen Kolonialisten getötet worden waren. Damals waren sie fein säuberlich in Kartons verpackt und ins rund 8.000 Kilometer Luftlinie weiter nördlich gelegene Deutsche Reich verschifft worden, um sie dort zu vermessen und die angebliche Minderwertigkeit der Afrikaner pseudowissenschaftlich zu belegen. In den Jahrzehnten danach gerieten die Knochen in Deutschland in Vergessenheit und lagerten in feuchten Kellern, Magazinen und Archiven, unbeachtete Beweise des Völkermords an den Herero und Nama.

Mit der Übergabezeremonie machte die Bundesrepublik einen ersten Schritt auf Namibia zu, nachdem sie das Land jahrelang in dieser Frage ignoriert hatte. Die Rückgabe der Schädel war lange eine der wichtigsten Forderungen von namibischen Opfergruppen gewesen.

Heute, weitere fünf Jahre später, ist das Thema in Deutschland wieder weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, obwohl ein Sonderdelegierter der Bundesregierung derzeit mit Namibia über den Umgang mit der Kolonialgeschichte verhandelt. Bis zum Ende des Jahres will sich Deutschland endlich offiziell für die Verbrechen entschuldigen. Bis dahin muss aber noch geklärt werden, ob und wie viel finanzielle Entschädigung Namibia bekommt – und welche Rolle die Deutschnamibier dabei haben sollen.

Etwa 15.000 Nachfahren der deutschen Kolonialisten leben noch immer in dem Land, das zwischen 1884 und 1915 eine sogenannte Siedlungskolonie des Deutschen Reiches war. Anders als in anderen deutschen Kolonien sollten sie in Deutsch-Südwestafrika neue Existenzen gründen. Durch ein Täuschungsmanöver war es dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz 1883 bis 1885 gelungen, zunächst eine Bucht und anschließend weite Teile des Hinterlandes zu erwerben. Kurz darauf stellte das Deutsche Reich die von Lüderitz erworbenen Gebiete unter seinen „Schutz“. Die Einheimischen wurden von nun an als Menschen zweiter Klasse behandelt und zunehmend entrechtet. Mit der Ankunft deutscher Siedler verschärfte sich zudem der Kampf um den landwirtschaftlich nutzbaren Boden. Nach und nach wurden Herero und Nama gezwungen, ihr Land zu räumen. 1904 kam es nach vermehrten Protesten schließlich zum Aufstand gegen die Deutschen. Zunächst überrascht von der Auflehnung, entsandte das Deutsche Reich im Juni ein Expeditionskorps unter der Führung von Generalleutnant Lothar von Trotha, um den Aufstand niederzuschlagen. Dieser ließ Wasserstellen besetzen oder vergiften und gab wenig später den Befehl, alle Herero, auch Frauen und Kinder, zu erschießen. Diejenigen, die vor den Deutschen flüchteten, verdursteten oder verhungerten in der Wüste – der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Bis zum Ende des Krieges im Jahr 1908 wurden etwa vier Fünftel des Herero-Volkes und die Hälfte der Nama ausgelöscht. Tausende waren in Konzentrationslager gesteckt worden.

Im Juli 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, zogen die deutschen Besatzer ab. Viele Siedler blieben jedoch. Sie bilden bis heute eine vor allem aus Bauern und Geschäftsleuten bestehende Minderheit, die zu einem großen Teil an ihren Traditionen festhält. Viele Deutsch-namibier essen in ihren Cafés Currywurst und Schwarzwälder Kirschtorte und feiern das Oktoberfest. Viele Herero pflegen indes ihren eigenen Umgang mit dem deutschen Vermächtnis. Zu besonderen Anlässen tragen sie bis heute Kleider im viktorianischen Stil, wie sie ihnen damals von den Deutschen verordnet worden waren. Die Outfits haben sie allerdings mit eigenen Akzenten geschmückt: Durch bunte Stoffe und eigens entworfene Kopfbedeckungen haben sie sich die koloniale Kleidung längst zu eigen gemacht. Bei Gedenkveranstaltungen zum Völkermord tragen einige Männer Militäruniformen, die ebenfalls
an jene der Deutschen erinnern. Symbolisch gehen sie so als Sieger aus der Vergangen-heit hervor.

Die Folgen der Kolonialzeit sind bis heute spürbar. Am deutlichsten zeigt sich das an der ungleichen Verteilung des Landes. Obwohl die weiße Minderheit – rund ein Drittel davon sind Nachfahren von Deutschen – nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht, kontrollieren weiße Farmer bis heute 80 Prozent des kommerziellen Farmlandes. Die meisten Herero und Nama leben währenddessen weiterhin in bitterer Armut.

Die Beziehung der deutschen Minderheit zur Mehrheitsbevölkerung Nami-bias ist dementsprechend konfliktbeladen. Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1990 (bis dahin unterstand Namibia einem südafrikanischen Mandat) werden vermehrt Rufe nach einer vollständigen Aufarbeitung des Völkermords laut. Während etwa die deutschsprachige „Allgemeine Zeitung“ in Namibia vermeintlich positive Ergebnisse der Kolonialzeit wie den Straßenbau hervorhebt, fordern insbesondere Verbände der Herero eine Anerkennung des Völkermords durch die Deutschen. Dazu gehören in den Augen vieler Menschen die Umbenennung von namibischen Orten, deren Namen die Organisatoren von Völkermord und Vertreibung ehren, und die Beseitigung von Denkmälern für deutsche Kolonialisten. 

Auch hierzulande ist der Umgang mit dem Völkermord umstritten: In München wurde erst im Jahr 2007 die nach dem Organisator des Völkermords benannte Von-Trotha-Straße in Hererostraße umbenannt. Im Afrikanischen Viertel im Berliner Wedding ist weiterhin eine Straße nach dem Kolonialisten Lüderitz benannt, Dutzende weitere Straßen, Plätze und Denkmäler in ganz Deutschland tragen die Namen von Kolonialisten.

Bisher hat sich die Bundesregierung geweigert, Entschädigungen für den Völkermord an den Herero und Nama zu zahlen. Stattdessen verwies sie darauf, dass Namibia in den letzten Jahren eines der wichtigsten Empfängerländer für Entwicklungshilfe gewesen sei. Dabei verhandelt Deutschland nur mit der namibischen Regierung. Ob die aber auch für die Herero und Nama spricht, die nur einen Teil der Bevölkerung ausmachen, ist unklar. Ihre Vertreter fürchten, dass die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Ländern vor allem der namibischen Regierung nützen und die Bedürfnisse der Herero und Nama außer Acht lassen könnten. Deutschlands Position dazu ist jedoch klar: Es sei Aufgabe der namibischen Regierung, sicherzustellen, dass die Verhandlungsergebnisse im ganzen Land akzeptiert würden. Dass Deutschland sich aber bald offiziell für den Völkermord entschuldigen will, mehr als 110 Jahre danach, wird von allen Seiten begrüßt.